1. Juni 2023, 17:20 Uhr | Lesezeit: 11 Minuten
Das Jahr 2022 brachte die bisher größte Preissteigerung, die es im wiedervereinigten Deutschland jemals gab. So sorgten Inflation, gestiegene Lebensmittel- und Energiekosten bei vielen für schlaflose Nächte. In vielen Fällen trifft es Haushalte mit Kindern und Haustieren und das mit dramatischen Folgen. PETBOOK sprach mit Tierheimen und Tierschützern über die Auswirkungen von Armut auf Haustiere und ihre Besitzer in Deutschland.
Alles wird teurer. Das hat zur Folge, dass bei immer mehr Menschen schon Mitte des Monats das Geld knapp wird und bei anderen die Ersparnisse regelrecht dahinschmelzen. Gerade Personen mit ohnehin wenig Geld trifft es besonders hart. Da kommt die neue Gebührenordnung für Tierärzte (GOT), die im Herbst 2022 in Kraft getreten ist, und die dadurch merklich gestiegenen Tierarztpreise denkbar unpassend (PETBOOK berichtete). So kommt es vermehrt dazu, dass sich immer mehr Tierhalter in der schwierigen Situation wiederfinden, dass sie abwägen müssen, ob sie sich ihr Tier überhaupt noch leisten können. Im Folgenden berichten wir, wie es um die Lage der Haustiere in Deutschland steht, deren Besitzer in oder am Rande der Armut leben.
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Rentnerin teilt sich aus Geldnot das Katzenfutter mit ihrer Katze
„Die Preissteigerungen sind derzeit beherrschendes Thema am Telefon“, sagt Amira Mahdi vom Silbernetz, einem telefonischen Angebot, das ältere Menschen vor der Vereinsamung helfen soll. Dort können Senioren anrufen und mit Ehrenamtlichen über die Themen sprechen, die sie bewegen. Eine von ihnen ist eine 72-jährige Daueranruferin, die erstaunlich gelassen bleibt, wenn sie sagt: „Es ist Monatsende, jetzt teilen Minka und ich uns die Dosen.“ Minka ist ihre Katze und sie spricht von Katzenfutter-Konserven. Damit ist die Rentnerin aber nicht alleine. Auf eine Anfrage von PETBOOK bestätigen uns gleich mehrere Tierheime, dass es aktuell vermehrt zu Abgaben kommt, weil Halter sich die Lebenshaltungskosten ihrer Haustiere nicht mehr leisten können.
Dass Leute aus Armut ihre Haustiere abgeben sei jedoch nichts Neues, sagt Kristina Berchtold vom Tierheim München: „Finanzielle Nöte waren schon immer ein häufiger Abgabegrund. Wir hören oft, dass sich die Leute die Haltung nicht mehr leisten können oder möchten“, Sie sieht vor allem einen Zusammenhang zwischen der neuen Gebührenordnung für Tierärzte und den steigenden Abgabe-Zahlen: „Wir bekommen oft kranke oder verletzte Tiere, bei denen man davon ausgehen muss, dass sie aufgrund von entstehenden Tierarztkosten ausgesetzt wurden. Wir hatten schon einige Fälle von kranken Katzen, die wirklich kostenintensive Betreuung gebraucht haben und vermutlich deswegen abgegeben wurden. Es gab aber auch Fälle, wo uns Menschen offen gesagt haben, dass sie sich die Tierarztkosten nicht leisten können.“
Halter schieben kranke Haustiere ins Tierheim ab
Oft hätten die Tiere chronische Erkrankungen, die nicht nur teuer, sondern auch aufwendig in der Pflege seien, weiß Berchtold: „Nierenerkrankungen sind der Klassiker oder Diabetes, wo regelmäßige Behandlungen notwendig sind“, aber auch Unfall-Verletzungen kämen vor. In ihrer Arbeit sehen die Mitarbeitenden der Tierheime regelmäßig traurige Schicksale – aufseiten von Mensch und Tier. So wurde der 15-jährige Langhaar-Kater Bärli im Heim abgegeben, nachdem seine in Geldnot geratene Halterin das „vollkommen verwahrloste“ Tier nicht mehr halten konnte. Nachdem der Kater mit massivem Durchfall und Bauchschmerzen eingeliefert wurde, ergab die tierärztliche Untersuchung eine stark veränderte Bauchspeicheldrüse und entzündete Darmschlingen. „Es besteht der Verdacht auf Krebs“, sagt Berchtold. Ein früherer Arztbesuch hätte dem Tier viel Leid ersparen können.
Auch der 16-Jährige „Katerle“ gehört zu den Haustieren, die unter den Folgen der Armut seiner Besitzer leiden mussten. Der rot/weiße Kater wurde mit gesundheitlichen Einschränkungen abgegeben, die den Haltern schon über ein Jahr bekannt waren. Allerdings habe man nicht das Geld gehabt, um die Arztkosten zu bezahlen. Die Diagnose beim Tierheim-Veterinär fiel dafür umso niederschmetternder aus: entzündete Darmschlingen, veränderte Lymphknoten, Bauchspeicheldrüsenentzündung, Hüftarthrose und der Verdacht auf Tumore. Auch hier hätte man dem Tier mit einem Besuch beim Tierarzt eine Menge Schmerzen erspart.
Tierärzte und Tierschützer appellieren daher seit Langem an Tierhalter, unbedingt eine Krankenversicherung für das eigene Haustier abzuschließen, um im Krankheitsfall das Tier versorgen zu können. Doch auch diese bedeuten monatliche Kosten, die sich vor allem Leute in Armut für ihre Haustiere nicht leisten können.
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Vermehrte Nachfrage bei Krankenkassen
Trotzdem lässt sich bei den Versicherungen für Tiere ein deutlicher Trend erkennen. So bestätigte Franziska Obert, PR und Marketing Managerin der Agila Haustierversicherung AG, auf Anfrage von PETBOOK, dass sich auf jeden Fall ein starker Anstieg bei der Nachfrage nach Tierversicherungen zeige. Aktuell sei der mittlere Tarif, der Tierkrankenschutz, besonders nachgefragt.
Auch Verena Kaus, Pressereferentin Unternehmenskommunikation der HanseMerkur Krankenversicherung AG, bestätigt PETBOOK, dass die Nachfrage auf ihre Versicherungsprodukte steige. „Unsere Zahl der Versicherten ist ganz klar gestiegen. Die Zahl der Bestandsverträge konnten wir alleine in diesem Jahr von Januar bis April um über 66,5 Prozent erhöhen.“ Bei der Tier-OP Versicherung sei bereits absehbar, dass ein Rundumschutz gewünscht sei, zu 95 Prozent wurden Tier-OP-Versicherungen des Tarifes „best“ ausgewählt.
Die HanseMerkur verzeichnet sogar einen Anstieg von 88 Prozent bei Premium-Tarifen. „Es ist also auch hier durchaus abzusehen, dass Tierhalter sich verstärkt umfassend absichern möchten.“ Dies könne man auch an der hohen Zahl der Abschlüsse ohne Selbstbeteiligung und dem Zusatzbaustein „Zahn“ erkennen. Vor allem für Hunde und Katzen schließen Besitzer Versicherungen ab. So seien bei der HanseMerkur 55 Prozent Katzen und 45 Prozent Hunde versichert, wie Verena Kaus PETBOOK abschließend mitteilt.
Melanie Berggold, Pressesprecherin für Sachversicherungen von der Allianz, nannte PETBOOK auf Anfrage keine konkreten Zahlen. In Deutschland hätten sich zuletzt coronabedingt viele Menschen für ein Haustier entschieden und die Allianz verzeichne generell großes Interesse an dem Thema Tierkrankenversicherung sowie Wachstum in diesem Bereich. „Die neue Gebührenordnung für Tierärzte war sicherlich für viele Tierhalterinnen und Tierhalter ein aktueller Anlass, den Schutz ihres Tieres zu überprüfen“, sagt Berggold.
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Berliner Tiertafel verzeichnet jedes Mal bis zu 25 Neuanmeldungen
Auch ehrenamtliche Vereine bemerken, dass sich der Bedarf an Unterstützung für Halter von Haustieren, die in Armut leben, erhöht. Bei einem Besuch der Berliner Tiertafel wird PETBOOK berichtet, dass sich aktuell etwa 3000 Nutzer in der Kartei der Tafel befinden. Bei jeder Futterausgabe gebe es 20 bis 25 Neuanmeldungen. Oft sind solche Einrichtungen für Tierhalter mit schwachem oder keinem Einkommen die einzige Möglichkeit, Futter oder ärztliche Versorgung für ihre Haustiere zu erhalten. Mehr zu dem Besuch bei der Tiertafel können Sie in dieser Reportage nachlesen: Zu Besuch bei der Berliner Tiertafel – die Warteschlange ist vor Öffnung schon 100 Meter lang.
Auch in anderen Städten zeichnet sich eine erhöhte Nachfrage an ehrenamtlichen Angeboten und Futterspenden bei Tierbesitzern ab. So bestätigt Lutz Wingerath von Verein Herzensangelegegenheit e. V. in Grevenbroich PETBOOK im Gespräch, dass immer mehr Leute die Tiertafel und das mobile Tierarztfahrzeug seines Vereins aufsuchen. Erst im Herbst 2022 wurde das Team um Wingerath für seinen Einsatz einer mobilen Tierarztpraxis im Tiermobil (kurz TieMo) mit dem ersten Platz des Deutschen Tierschutzbundes ausgezeichnet (PETBOOK berichtete). Schon damals berichteten die Helfer bei der Dankesrede, dass es immer schwieriger sei, die hohe Nachfrage zu bedienen.
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Es ist schwieriger, etwas zu bekommen: „Die Leute haben eigene Probleme“
Bei einer Futterausgabe der Tiertafel erhalten durchschnittlich 250 Nutzer Futter und Zubehör für ihre Tiere. Beim Verein Herzensangelegenheit waren es zuletzt über 30 Nutzer. Allerdings könnten die Bilder, wie die ehrenamtlichen Vereine ihre Arbeit ausführen, nicht unterschiedlicher sein. Während die Berliner Tiertafel eine erhöhte Bereitschaft bestätigt, muss Lutz Wingerath noch immer für Spenden werben, denn von Privaten erhielte er kaum Unterstützung. In der aktuellen Krise sei es „schwieriger etwas zu bekommen, denn die Leute haben eigene Probleme“.
Größer sieht die Bereitschaft bei Sachspenden aus, denn dabei handelt es sich oft um Dinge, die Tierbesitzer ohnehin nicht mehr benötigen oder sogar gerne loswerden wollen. So erhält die Berliner Tiertafel regelmäßig Katzenklos – gerne auch mal benutzte –, Hundeleinen und Spielzeug in so großen Mengen, dass sie diese sogar an andere Tierschutzorganisationen weitergibt. Doch Sachspenden muss Lutz Wingerath ablehnen, wie er PETBOOK im Gespräch erzählt. Er habe keine Möglichkeit, diese zu lagern.
Einige exotische Haustiere werden im Zoo ausgesetzt
Aber nicht nur Haustiere wie Hunde, Katzen oder Kaninchen sind von der Armut ihrer Besitzer betroffen. Vor allem Exoten wie Schlangen oder Bartagamen, die für mehrere Stunden am Tag höhere Temperaturen und künstliches Sonnenlicht im Terrarium benötigen, kosten viel Strom und damit auch Geld. So kommt es immer wieder vor, dass Tierhalter exotische Tiere wie Sumpf- oder Wasserschildkröten, Echsen oder exotische Vögel einfach in Zoos oder botanischen Gärten aussetzen.
„Das passiert regelmäßig“, verrät Reptilien-Facharzt Thomas Türbl von der Auffangstation für Reptilien, München e. V. Der Botanische Garten in München sei dafür bedeutender Hotspot. So würden sich die Halter verbotenerweise an solchen Orten ihrer Tiere entledigen und denken, ihnen dabei noch etwas Gutes zu tun. „Die Leute wollen ihre Tiere versorgt wissen und denken: ‚Toll, da gibt es Tierpfleger und Fachpersonal, die kennen sich mit Tieren aus und da setze ich mein Tier aus.‘“ Das sei übrigens genauso verboten, wie ein Tier woanders auszusetzen, so Türbl.
Zudem seien Zoos nicht darauf ausgelegt, auch noch als Haustierauffangstation zu fungieren. „Mit den ersten 20–30 Schildkröten kommen sie zurecht, aber dann wird es zu viel.“ Außerdem sei das verdammt gefährlich, gibt Kurator Markus Klamt vom Berliner Tierpark zu bedenken. „Wenn jemand seine Schmuckschildkröte hier im Teich ‚entsorgt‘, dann ist das ein riesiges Gesundheitsrisiko für alle darin lebenden Tiere. Wenn von außen etwas hereingebracht wird, was nicht kontrolliert wurde, dann kann das den kompletten Bestand von teilweise hoch bedrohten Tieren dahinraffen.“
Häufig landen kranke Reptilien in der Auffangstation
Anders als von vielen Tierschutzorganisationen befürchtet, kam es durch die gestiegenen Energiekosten nicht zu einer „Exotenflut“ von Aussetzungen in Zoos oder Abgaben in Tierheimen. „In den kommenden zwölf bis achtzehn Monaten rechnen wir bundesweit mit einem deutlichen Anstieg an abgegebenen oder ausgesetzten Tieren“, schrieb Patrick Boncourt, Reptilienexperte beim Deutschen Tierschutzbund, besorgt in einem Statement. Diesen Trend können Markus Klamt vom Berliner Tierpark sowie Thomas Türbl von der Auffangstation für Reptilien bei sich aber nicht erkennen. Im Berliner Tierpark sei die Zahl der ausgesetzten Haustiere sogar komplett zurückgegangen, freut sich der Kurator: „Gott sei Dank!“
Dennoch sei nicht von der Hand zu weisen, dass häufig auch kranke Reptilien bei Türbl in der Auffangstation landen würden. Fatal sei dabei, dass viele Tierhalter eine Rechnung in ihrem Kopf machten, und dabei vergessen, dass es sich hier um ein Lebewesen handelt: „Wir haben Bartagame hereinbekommen, die einander den Schwanz zerbissen haben. Wenn man da zum Tierarzt geht, landet man mit Amputationen und stationärem Aufenthalt schnell bei 600 Euro und mehr. Für viele schmälert das den ‚Tierwert‘. Das Blöde am Menschen ist, dass er denkt: Eine Bartagame kann ich für 30 bis 40 Euro kaufen, warum soll ich 500 Euro Arztkosten für das Tier bezahlen?“ Deshalb empfiehlt auch er Tierhaltern eindringlich, eine Versicherung für Haustiere abzuschließen.
Leute schränken eher ihren eigenen Konsum ein, um den Tieren zu helfen
Aber nicht alle Leute, die in Armut leben, sparen an ihren Haustieren. Eine Nachfrage von PETBOOK bei Futterherstellern, ob Besitzer möglicherweise weniger Futter oder Produkte in geringerer Qualität kaufen ergab: „Wir haben nicht das Gefühl, dass am Heimtier gespart wird“, sagt Nadine Giese-Schulz vom Tierlebensmittelhandel Futterhaus. „Heimtiere sind Familienmitglieder – entsprechend wird an ihnen zuletzt gespart. Wir können weder eine Kaufzurückhaltung feststellen noch einen Wechsel der Kunden auf günstigere Produkte im Bereich Tiernahrung.“ Auch Lutz Wingerath bestätigt diesen Eindruck: „Die Leute schränken sich in ihrem eigenen Konsum ein, um den Tieren zu helfen“.
Ehrenamtliche Tiermediziner Diese Vereine kümmern sich um Tiere von Hilfebedürftigen
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Quellen:
- „Deutschlandfunk.de“, „Inflation – Warum steigen die Preise?“, (aufgerufen am 01.06.2023)
- Bundestieraerztekammer.de, „Gebührenordnung (GOT)“, (aufgerufen am 01.06.2023)
- Tierschutzbund.de, „Sorge vor „Exotenflut“ in den Tierheimen“, (aufgerufen am 01.06.2023)