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Interview

Social-Media-Star „Gluexpfoten“: »Wie mein Autismus-Assistenzhund mein Leben veränderte

Finchen ist nicht nur Autismus-Assistenzhündin, sondern mittlerweile auch ein echter Social-Media-Star.
Finchen ist nicht nur Autismus-Assistenzhündin, sondern mittlerweile auch ein echter Social-Media-Star. Foto: Gluexpfoten
Dennis Agyemang
Redakteur

14. Februar 2025, 14:03 Uhr | Lesezeit: 9 Minuten

Assistenzhunde sind heute wohl jedem ein Begriff. Die meisten verbinden sie mit Blindenführhunden oder Therapiehunden für Senioren. Speziell ausgebildete Assistenzhunde können aber auch für Menschen mit Autismus eingesetzt werden und ihnen bei den Herausforderungen des Alltags helfen. So wie die Mini-Aussie-Hündin Finchen, die bei ihrer Besitzerin Nicole lebt. Ihren abenteuerlichen Alltag teilen sie in den sozialen Netzwerken.

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Finchen ist nicht nur eine Autismus-Assistenzhündin, sondern mittlerweile auch ein echter Internet-Star. Ihre Besitzerin Nicole Baselt, eine echte „Incluencerin“, wie sie sich selbst nennt, informiert auf Instagram und Co. über das Leben als Autistin mit einem speziell ausgebildeten Autismus-Assistenzhund. Ihre „Gluexpfoten“-Clips werden im Netz tausendfach geklickt. PETBOOK hat mit Nicole über ihr Leben mit Finchen gesprochen.

»Finchen hilft mir als Autistin den Alltag nicht als Bedrohung oder Überforderung zu erleben

PETBOOK: Du hast mit Finchen einen Autismus-Assistenzhund. Was muss ein Autismus-Assistenzhund können?
Nicole Baselt: „Finchen hilft mir als Autistin, den Alltag außerhalb der gewohnten Umgebung oder Routine nicht als Bedrohung oder Überforderung zu erleben. Denn als Autistin lebe ich ein Leben ohne Reizfilter. Keinen Reizfilter zu haben bedeutet, alle Reize gleich stark wahrzunehmen. Stell dir vor, du sitzt in einem Meeting und die Stimme der vortragenden Person ist genauso laut wie das Ticken der Uhr an der Wand. Dann sind noch 30 andere Personen im Raum. Eine ziemliche Herausforderung. Oder du hast starke Migräne – in so einem Moment ist alles zu laut, zu hell und einfach zu viel. Das ist für mich Alltag.
Daher beruhigt mich Finchen, sie vermittelt Sicherheit und unterbricht oder mildert Überforderungszustände, indem sie meinen Fokus auf sich lenkt.“

Was genau sind ihre Aufgaben?
„Zu ihren Aufgaben zählt rechtzeitiges Erkennen von Reizüberflutungen, sogenannten ‚Overloads‘. Wenn wir z. B. im Einkaufszentrum sind, kann sie mich, wenn ich orientierungslos werde, an den Rand, zum Ausgang oder zu einer Sitzgelegenheit führen. Finchen bemerkt diese Reizüberflutungen durch Veränderungen im Geruch, weil ich Stresshormone ausschütte, oder durch Veränderungen in meinem Verhalten, auf die
sie speziell trainiert wurde, diese anzuzeigen – z. B. durch Stupsen, Kratzen, Pfotentouch, Anspringen, Ablecken, Stehenbleiben, Bringsel bringen oder Bellen. So kann ich frühzeitig entgegensteuern. Mit dieser Art von Warnung lenkt sie außerdem meinen Fokus wieder auf sich, sodass ich den Reiz weniger stark wahrnehme.“

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„Als geprüfter Assistenzhund ist Finchen ein medizinisches Hilfsmittel, genauso wie ein Rollstuhl“

Das klingt echt beeindruckend …
„Finchen kann mich auch aus sogenannten ‚Shutdowns‘ herausholen. Wenn ich in eine große Überforderung gerate, ziehe ich mich innerlich zurück, um mich von der überfordernden Welt zu schützen. Dabei kann ich mich teils nicht mehr bewegen oder kommunizieren, bekomme aber fast alles mit – was große Angst in mir auslöst. Sie hat gelernt, andere Menschen von mir abzublocken, ohne sie zu behindern, was mir viel Sicherheit gibt. Ein weiterer wichtiger Teil ihrer Arbeit ist DPT (Deep Pressure Therapy): Dabei legt sie sich mit ihrem Körpergewicht auf meine Beine, was mein Nervensystem beruhigt und mir hilft, mich schneller wieder zu entspannen.

Darum ist es wichtig, dass Finchen in ihrem Job nicht abgelenkt wird, damit sie diese Aufgaben wahrnehmen kann. Sie trägt ihre Kenndecke, wenn wir unterwegs sind, damit andere Menschen wissen, dass sie arbeitet. Des Weiteren haben wir dadurch ein paar Sonderrechte: Sie darf mich überall hin begleiten, wo Straßenschuhe erlaubt sind, z. B. in den Supermarkt oder zum Arzt – Orte, an denen ein normaler Haushund nicht erlaubt wäre. Denn als geprüfter Assistenzhund ist sie ein medizinisches Hilfsmittel, genauso wie ein
Rollstuhl. Und einem Rollstuhlfahrer würde man ja auch nicht sagen, dass er seinen Rollstuhl vor der Tür stehen lassen soll.“

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„Finchen wurde an dem Tag geboren, an dem mein Papa ins Krankenhaus kam, wo er drei Tage später an Krebs verstarb“

Was unterscheidet einen Autismus-Assistenzhund von einem „gewöhnlichen“ Assistenzhund?
„Der größte Unterschied ist meiner Meinung nach, dass der Fokus bei Autismus-Assistenzhunden auf den Emotionen liegt. Sie vermitteln Sicherheit und Struktur und helfen, sich so akzeptiert zu fühlen, wie man ist. Als Autistin stoße ich im Alltag immer wieder an meine Grenzen in der Kommunikation – oft mit dem Gefühl, nichts richtig machen zu können und anzuecken. Finchen akzeptiert mich hingegen genau so, wie ich bin.“

Wie hat Finchen dein Leben verändert?
„Finchen wurde an dem Tag geboren, an dem mein Papa ins Krankenhaus kam, wo er drei Tage später an Krebs verstarb. Diese drei Tage waren eine reine Achterbahnfahrt zwischen Angst, Trauer, Sorge und großer Freude, weil ich wusste, dass ich eine so tolle Unterstützung bekommen werde. Als sie drei Monate später bei mir einziehen konnte, hat sie mir nicht nur geholfen, meine Trauer zu überwinden. Sie hat mir geholfen, neue Tagesstrukturen aufzubauen – ich habe nun einen Grund, rauszugehen und meinen Laptop auch mal zuzuklappen.

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Ich habe außerdem gelernt, wie ich das Training mit ihr aufbauen muss, sodass wir beide Erfolge feiern und dabei ganz viel Spaß haben. Das stärkt das Selbstbewusstsein enorm, und man lernt automatisch, mehr auf sein Bauchgefühl zu hören und rechtzeitig Pausen zu machen.“

„Dann könnte ich im Krankenhaus landen oder mehrere Tage zur Erholung brauchen …“

Wie kamst du dazu, Videos zu eurem Alltag zu machen?
„Die meisten Menschen kennen nur Blindenführhunde. Den wenigsten ist bewusst, welche verschiedenen Einsatzbereiche (Epilepsie, Diabetes, PTBS, uvm.) es noch gibt. Wenn wir dann im Alltag von Fremden angesprochen werden, habe ich je nach Situation manchmal keine Zeit oder Energie, alle Fragen zu beantworten. Daher hat es für mich am meisten Sinn ergeben, Videos zu erstellen. So kann ich im Alltag einfach eine kleine Karte mit dem Link zu unserem Kanal aushändigen. Auf diese Weise kann ich Wissen weitergeben und gleichzeitig auf meine Energie achten.“

Du hast in einem Video erzählt, dass du Menschen, die nach Finchens Namen fragen, für gewöhnlich einen falschen Namen sagst. Warum?
„Ja, genau. Finchen heißt manchmal ‚Nala‘. Denn wenn Fremde mich nach ihrem Namen fragen, ist ihre erste Reaktion, dass sie sie rufen würden – in 99 Prozent der Fälle. Dadurch wird Finchen aber von ihrem Job abgelenkt. Sie könnte mich dann nicht mehr warnen, falls ich selbst nicht merke, dass mir die Situation zu viel wird. Im schlimmsten Fall kann es zu einem Shutdown kommen, bei dem ich nicht mehr sprechen oder mich bewegen kann und große Panik bekomme. Dann könnte ich im Krankenhaus landen und/oder mehrere Tage zur Erholung brauchen.“

»Einen Rollstuhl würde man schließlich auch nicht einfach so schieben oder ungefragt über seine komplette medizinische Geschichte ausfragen

Gab es Herausforderungen, die du anfangs mit deinem Assistenzhund hattest?
„Neben der Welpenphase, in der sie alles versucht hat, anzuknabbern und meine Wohnung auf den Kopf gestellt hat? Ja, vor allem das Setzen von Grenzen gegenüber anderen Menschen. Menschen, die sie einfach streicheln wollten. Menschen, die unser Training ungefragt kommentiert haben und alles besser wussten. Oder Fremde, die die Kenndecke gesehen und mich unangenehm über meine ‚Behinderung‘ ausgefragt haben. Einen Rollstuhl würde man schließlich auch nicht einfach schieben, ohne vorher zu fragen. Oder einen Rollstuhlfahrer ungefragt über seine komplette medizinische Geschichte ausfragen, ohne den Menschen überhaupt zu kennen.“

Wie reagiert dein Hund auf verschiedene soziale Situationen, in denen du dich befindest?
„Finchen ist darauf trainiert, in den verschiedensten Situationen ruhig an meiner Seite zu sein. Mein Hauptziel ist, dass sie nicht auffällt – es sei denn, es geht mir nicht gut. Dann zeigt sie es an, sodass wir dadurch Hilfe von außen bekommen können.“

Was sind die meistgestellten Fragen zu deinem Hund?
„Ein Auge von Finchen ist zur Hälfte blau – deswegen werde ich oft gefragt, ob sie blind sei, weil das neben der Kenndecke am meisten auffällt. Ansonsten natürlich Fragen zu ihrem Job und ihren Aufgaben. Außerdem werde ich gefragt, wie sie ausgebildet wurde und ob sie für mich oder jemand anderen bestimmt ist.“

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„Dank Finchen konnte ich so viele tolle Kontakte zu anderen Menschen aufbauen, was mir so vorher schwerfiel“

Was war der denkwürdigste Moment, den du mit Finchen erlebt hast?
„Ich kann das nicht auf einen einzigen Moment festmachen. Es ist die Summe der Erfahrungen und Erlebnisse, die uns zu einem Team haben zusammenwachsen lassen. Das gewachsene Rückgrat, das uns zeigt, dass wir hier sein dürfen. Dass wir z. B. das Recht haben, als Team in einen Supermarkt zu gehen, wo sonst keine Hunde erlaubt sind. Oder auch der pure Moment von Stolz und Glück, als wir unsere Assistenzhunde-Prüfung bestanden haben.“

Wie hat dein Hund deine Sichtweise auf soziale Interaktionen und Beziehungen verändert?
„Um 180 Grad. Dank Finchen konnte ich so viele tolle Kontakte zu anderen Menschen aufbauen, was mir vorher so schwerfiel. Viele davon sind zu Freunden geworden. Wir haben eine ganze WhatsApp-Gruppe mit Hundekumpels – es findet sich immer jemand für eine Spielrunde oder einen gemeinsamen Waldspaziergang. Ein stabiles soziales Netz zu haben, in dem ich auch um Hilfe bitten kann, ist unglaublich wertvoll.“

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Mit einem Autismus-Assistenzhund fällt man sehr auf

Was würdest du anderen Menschen mit Autismus raten, die überlegen, einen Assistenzhund zu bekommen?
„Mit einem Assistenzhund unterwegs zu sein, bedeutet, dass man auffällt. Und zwar sehr. Das muss man sich von Anfang an bewusst machen. Dadurch gerät man in Situationen, die man vorher nicht für möglich gehalten hätte. Es passieren aber auch viele wunderbare Momente, die das Herz erwärmen oder einen zum Lachen bringen. Vor allem aber geben sie Kraft. Alles in allem ist es eine Reise, auf die man sich einlassen muss – eine Reise, in der man unglaublich viel lernen und persönlich wachsen kann.

Man sollte sich jedoch unbedingt gut vorbereiten und viel recherchieren: Wo finde ich eine gute Organisation oder Trainer? Welche Rasse eignet sich für mich? Kann ich meine eigenen Ängste und Hindernisse überwinden? Wie gehe ich damit um, wenn das Training mal nicht gut läuft oder mir der Zutritt verweigert wird? Wie stemme ich die Finanzierung? Was mache ich, wenn ich meinen Hund wegen Krankheit nicht betreuen kann?

Ein guter Tipp: Sich wirklich intensiv mit dem Thema beschäftigen, auf Social Media anderen Mensch-Hunde-Teams folgen und schauen, welche Herausforderungen sie haben. Dann gut überlegen, ob man das leisten kann – denn es muss auch fair für den zukünftigen Assistenzhund sein. Wenn alles passt, kann es eine wunderbare Erfahrung werden und eine Hilfe sein, von der man vorher nicht zu träumen gewagt hätte. Inklusive Persönlichkeits-Crashkurs und ganz viel Flausch.“

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