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Interview mit Vanessa Engelstädter

Hundetrainerin: »Hunde sind heutzutage immer gestresster – schuld sind wir

Collage aus bellendem Schäferhund an der Leine und Porträtbild von Hundetrainerin
Aggression an der Leine kann entstehen, wenn Hunde unter dem Stress ihrer Halter leiden, wie Hundetrainerin Vanessa Engelstädter im Interview erklärt Foto: Getty Images / Vanessa Engelstädter (Kreis)
Porträtaufnahme von Autorin Manuela Lieflaender mit Hund Elvis
Freie Autorin

23. August 2024, 6:53 Uhr | Lesezeit: 9 Minuten

Wir Menschen haben Stress – das spüren auch unsere Hunde. Im Alltag führt dies häufig zu Problemen, die sich durch klassisches Training nicht lösen lassen. PETBOOK-Autorin Manuela Lieflaender sprach mit Hundetrainerin Vanessa Engelstädter darüber, warum viele Hunde unter dem Stress ihrer Halter leiden und wie ein achtsamer Umgang das Verhalten verbessern kann.

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In einer hektischen Welt, in der Stress für viele Menschen zum Alltag gehört, sind unsere Hunde zunehmend gestresster. Das wirkt sich auf das Zusammenleben mit unseren Vierbeinern aus. Oft wird das Problem beim Hund gesucht, doch wir Menschen sind meist der Auslöser, sagt Vanessa Engelstädter, die seit über 15 Jahren mit Mensch-Hunde-Teams zusammenarbeitet. Im PETBOOK-Interview erklärt die Hundetrainerin und Buchautorin, welche Rolle die innere Haltung des Menschen dabei spielt und wie man durch bewusste Führung und Verständnis die Beziehung zum Hund verbessern kann.

»Hunde empfinden immer häufiger Stress

PETBOOK: Vanessa, du hast dich auf das Thema Stress und Resilienz bei Hunden und Menschen spezialisiert. Wie anfällig sind Hunde für unseren Stress?
Vanessa Engelstädter: „Es gibt aktuelle Studien, die zeigen, dass jeder dritte Mensch an psychischen Instabilitäten leidet. Jeder Zweite ist von stärkeren Stresszuständen betroffen. Das spiegelt sich in den Mensch-Hund-Beziehungen wider. Ich arbeite seit 15 Jahren als Hundetrainerin und habe in dieser Zeit Instabilitäten bei Menschen festgestellt. Es gibt Hunde, die in sich ruhen und denen der Stress des Menschen nichts ausmacht. Bei sehr selbstständigen Rassen, wie beispielsweise einem Dackel kann das sein. Der typische Golden Retriever hingegen orientiert sich eng an seinem Menschen, auch emotional.“

Sind Hunde heutzutage immer gestresster?
„Ja. Es ist nun mal so, dass wir den Hund erschaffen haben. Die ganzen Rassen und ihre Mixe sind durch den Menschen entstanden. Deswegen ist der Hund sehr auf den Menschen geeicht. Die Wissenschaft spricht von einem ‚Zwischentier‘. Der Hund ist kein Wildtier, aber auch kein Mensch. Hunde verstehen Wörter, das Sprachzentrum hat sich weiterentwickelt. Durch die Anpassung an den Menschen und der hektischen Umwelt empfinden sie auch immer häufiger Stress.“

„Ich wäre nie enttäuscht, wenn ein Hund nach mir schnappt“

Was brauchen Hunde?
„Man sollte den Hund aus einer inneren Ruhe heraus anleiten. In der Kindererziehung hilft das genauso. Wenn man wohlwollend mit sich und anderen umgeht, außerdem eigene Bedürfnisse nennen kann, läuft es für einen selbst besser. Ist man hingegen negativ eingestellt und fühlt sich oft als Opfer, sieht mich der Hund nicht als Ansprechpartner. Zum Beispiel, wenn es um die Leinenführigkeit geht. Wenn die nicht funktioniert, muss es nicht immer an der Erziehung liegen. Es kann auch sein, dass der Hund mir nicht zutraut, dass ich Konflikte für ihn lösen kann. Ich habe viele Menschen im Training, die das Hundeverhalten persönlich nehmen. Das passiert immer dann, wenn der Mensch sich nicht sicher im Umgang mit dem Hund ist.“

Ist es nicht trotzdem eine normale Reaktion für einen Hundehalter, enttäuscht zu sein, wenn der eigene Hund zum Beispiel gebissen hat, weil er Beute verteidigen will?
„Ja, absolut. Natürlich kann ein Hund eine Ressourcenaggression zeigen und beißen. Wenn ich darüber enttäuscht bin, hatte ich jedoch ein falsches Bild vom Hund. Denn enttäuscht bin ich nur, wenn ich anders gedacht habe. Man könnte sagen, das Gefühl der Enttäuschung zeigt mir, dass ich den Hund nicht passend eingeschätzt habe. Ich hatte eine andere Erwartungshaltung. Ich wäre zum Beispiel nie enttäuscht, wenn ein Hund nach mir schnappt, weil ich weiß, dass Hunde auch Aggression als Ausdruck ihres Bedürfnisses einsetzen.“

Auch interessant: Hunde sind gestresst, weil wir ihre Körpersprache nicht verstehen

Wer zu verbissen ist, hat mehr Probleme mit dem Hund

Vermutlich sind die meisten Hundehalter enttäuscht, wenn der eigene Hund sie gebissen hat. Da fehlt die emotionale Distanz.   
„‚Nimm mal die persönliche Ebene raus‘, ist das Erste, was ich rate, um eine Situation sachlicher zu bewerten. Es gibt verschiedene Herangehensweisen. Manchmal lassen sich die Probleme mit einem klassischen Hundetraining lösen. Es geht aber auch um die Ursachen. Hier war neulich ein junger Hund, der sein Futter verteidigt hat. Wie sich herausgestellt hat, lagen die Ursachen beim Züchter. Er hat alle Welpen aus einem Napf fressen lassen und wer sich nicht durchsetzen konnte, der ist halt nicht satt geworden. Also haben wir den Welpen erst mal richtig satt gemacht und dann etwas Besseres in den Napf hineingelegt. Später konnten wir uns dem Napf nähern und es passierte nichts mehr. Die Ressourcenaggression war in diesem Fall ein Missverständnis. Wenn ich hingegen feststelle, dass der Hund eigentlich kooperieren möchte und angepasst ist, aber die Menschen sich im Weg stehen, dann spreche ich das offen an.“

Was sind das für Fälle, in denen sich der Mensch in Bezug auf seinen Hund selbst im Weg steht?
„Na ja, ich hatte kürzlich eine Doggenbesitzerin hier. Sie ist ein dominanter Mensch und hatte nie Probleme mit ihren Hunden. Bei diesem Hund war es anders. Ich habe ein Video davon gemacht, wie sie mit dem Hund arbeitet und ihr das gezeigt. Ihr fiel selbst auf, dass sie zu verbissen im Umgang mit dem Vierbeiner ist. Ihr fehlte die Leichtigkeit.“

„Scham ist ein geniales Gefühl!“

Erfahrungsgemäß haben Menschen, die verbissen sind, mehr Probleme mit ihren Hunden, als solche die locker an die Erziehung herangehen …
„Das stimmt, eine Erziehung muss ja stattfinden, aber ein gelassener Mensch trifft bessere Entscheidungen. Es hilft, wenn man das Verhalten des Hundes nicht persönlich nimmt.“

Trotzdem ist es vielen Menschen peinlich, wenn ihr Hund draußen wie verrückt an der Leine zieht und bei anderen Hunden ausrastet.
„Wenn du dich schämst, willst du schnell raus aus der Situation, weil das Schamgefühl sehr mächtig ist. Es lohnt sich aber, danach mal zu überlegen, warum man sich eigentlich geschämt hat. Wir sollten mehr mit uns selbst in Kontakt treten. Denn Schamgefühle sind die Ursachen von Ängsten und Phobien. Schamgefühle sorgen dafür, dass wir Situationen meiden. Doch in dem Moment, nehmen wir uns selbst die Möglichkeit, zu lernen und zu wachsen. Natürlich kann es kurzfristig sinnvoll sein, einer Situation aus dem Weg zu gehen, bis man wieder mehr Kraft hat. Aber langfristig sollte man schauen, dass es weiter geht.“

Was rätst du deinen Kunden, wenn sie sich schämen, weil der Hund an der Leine zieht?
„Ohne die Selbstreflexion geht es nicht. Wenn es ihnen unangenehm ist, dass der Hund an der Leine zieht, stellt sich erst mal die Frage: Was gibt dir Sicherheit? Regelmäßiges Üben. Dann fängt man im Garten an zu üben und generalisiert das Ganze weiter in der belebten Umwelt. Das eigentliche Schamthema aber ist, dass man seinen eigenen Hund nicht im Griff hat und in den Gedanken andere einen dafür verurteilen, ob das nun stimmt oder nicht. Es ist eine tiefsitzende Angst vor Ausgrenzung. Aus dieser Situation kann man lernen, indem man zum Beispiel in einer Hundeschule an einem Social Walk teilnimmt und feststellt, dass viele Hundehalter dieselben Themen haben. Dadurch verringert sich das Schamgefühl. Scham ist übrigens ein geniales Gefühl!“

„Es gibt keine pauschale Betriebsanleitung für Hunde“

Warum ist Scham genial?
„Es hilft auf dem Weg zur Gelassenheit, es lässt dich selbstsicherer werden, wenn du einen passenden Umgang damit findest.“

Was sagst du jemandem, der davon nichts wissen will und einfach nur das Leineziehen „abstellen“ möchte?
„Ich schaue immer zuerst, ob dem Hund die Leinenführigkeit überhaupt beigebracht wurde und wie. Anschließend üben wir die klassische Leinenführigkeit. Aber Hundeschule ist eben nicht die Lösung für alles. Wissen allein nutzt nichts. Wenn der Hund an der Leine zieht, ist das meistens nur ein Symptom, das individuell zu betrachten ist. Deshalb schreibe ich keine Erziehungsratgeber. Denn man muss Fragen stellen, wie: Wurde die Leinenführigkeit überall beigebracht? Wie wurde das trainiert? Wie orientiert sich der Hund an dir? Mit und ohne Leine? Inwieweit kann dein Hund Frust aushalten? Hast du an der Impulskontrolle gearbeitet? Hat er etwa Angst, ich biete ihm keinen Schutz an der Rollleine und lasse alle Hunde zu ihm hin? Kann er ziehen, weil er weg möchte? Es gibt keine pauschale Betriebsanleitung für Hunde.“

Was hältst du denn von Onlinekursen, in denen die Leinenführigkeit vermittelt wird?
„(lacht) Darüber kann ich mich total aufregen! Oft sind es Marketingversprechen, die den Hilfe suchenden Menschen viel Geld aus der Tasche ziehen. Ich halte generell nichts von pauschalem Vorgehen. So ein Kurs kann zwar Ideen liefern und vielleicht funktioniert er zufällig bei dem ein oder anderen Hund. Aber die Leute, die bei mir in der Hundeschule sind, haben meistens schon viel ausprobiert und kamen mit den Kursen nicht weiter.“

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»Onlinekurse sind einfach nur cleveres Marketing

Warum funktionieren solche Kurse deiner Meinung nach nicht?
„Sie sind nicht auf das jeweilige Mensch-Hund-Team zugeschnitten.“

Es gibt Trainer, die werben damit, dass man das Geld zurückbekommt, wenn die Leinenführigkeit danach nicht funktioniert.
„Da sind wir wieder beim Schamgefühl. Was glaubst du, wie viele Menschen zugeben, dass es bei ihnen nicht funktioniert hat? Kaum einer. Das ist einfach cleveres Marketing.“

Machen wir mit unserem Stress unseren Hund zum Problemfall?
„Wir sorgen zumindest dafür, dass Themen zu Problemen werden. Der Hund kann ein Thema haben, zum Beispiel mit einem anderen Hund. Ein gestresster Mensch sorgt aber dafür, dass daraus ein Problem wird.“

Wie können wir das ändern?
„Wichtig ist ein wohlwollender, wertschätzender Blick auf den Hund und auf andere Menschen. Damit öffnet man den Raum für Verständnis und Verstehen, ein Grundprinzip der Kommunikation. Man sorgt außerdem dafür, dass der Hund sich angenommen fühlt.“

Das klingt ein wenig nach einer schönen, heilen Welt und vielen Leckerlis zum lieb füttern, würden böse Zungen behaupten.
„(lacht) Ich kann und mag beides. Ich habe einen prall gefüllten ‚Werkzeugkoffer‘. Ob positiv oder aversiv, das kommt auf den jeweiligen Hund, den Menschen und die Umweltbedingungen an. Lernen ist ein komplexer und individueller Vorgang, der keine einseitige Methode zulassen sollte.“

Am Ende benötigen Hunde eine Hierarchie, um sich wohlzufühlen. Stimmst du zu?
„In einer klaren Rollenverteilung fühlt sich jedes soziale Wesen wohl. Unsere Hunde wissen nicht immer, wie die Welt da draußen funktioniert, es braucht eine Anleitung. Wenn die Bedürfnisse dabei noch gesehen werden, ist die Hierarchie etwas Gesundes.“

Themen Hundetraining Hundeverhalten
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