22. November 2024, 6:31 Uhr | Lesezeit: 10 Minuten
Überall stößt man auf Webinare und Bücher, die davon handeln, wie Führung beim Hund funktioniert. Trotzdem tun sich viele Hundehalter schwer, die Tipps, die oft mit Stärke und Dominanz zu tun haben, umzusetzen. Gut so, sagt Mirjam Cordt. Die Hundeverhaltensexpertin erklärt im Interview, warum wir mit unseren Hunden weich sein sollten, um sie zu führen.
„Du musst dem Hund zeigen, wer hier das Sagen hat“ – so lautete lange Zeit die Empfehlung vieler Hundetrainer. Aber auch heute wird Hundehaltern schnell unterstellt, die Situation nicht im Griff zu haben, wenn ihnen der Hund auf der Nase herumtanzt. „Menschen, die ihren Hund lieben, obwohl er verhaltensauffällig ist, werden oft als zu weich bezeichnet“, sagt Hundeverhaltensexpertin Mirjam Cordt. Im Interview mit PETBOOK-Autorin Manuela Lieflaender erklärt sie, warum es gut ist, weich zu sein, um seinen Hund zu führen und welche kleinen Tipps dabei helfen, Hundebegegnungen besser zu meistern.
PETBOOK: Mirjam, über Führung wird viel geschrieben und trotzdem tun sich viele Menschen schwer damit, ihren Hund zu führen. Was sind die Gründe?
Mirjam Cordt: „Viele haben Angst, einen Fehler zu machen und als ‚Schuldiger‘ dazustehen, die Konsequenzen spüren zu müssen. Es fällt ihnen leichter, jemandem hinterherzulaufen als voranzugehen. Wenn es dann nicht klappt, ist der andere schuld, aber man selbst nicht! Was aber nicht bedacht wird ist, dass wenn du hinterherläufst, kommst du nie dort an, wo du wirklich hin möchtest.
Der Mensch nimmt sich einerseits extrem wichtig, aber bei dem worauf es darauf ankommt, nimmt er sich zurück. Viele Hundehalter denken, sie müssen um ihr Recht kämpfen im Umgang mit dem Hund. Dabei erzeugt das nicht gerade Kooperationsbereitschaft beim Tier. Es geht doch auch freundlicher. Wer um sein Recht kämpft, der hat Angst. Wer führt, der ruht in sich.“
Mirjam Cordt: „Eine Führungspersönlichkeit liebt es, andere wachsen zu sehen“
Was bedeutet „führen“ für dich?
„Selber zu führen, heißt über sich hinauszuwachsen. Das bedeutet, sich darüber bewusst zu werden: Was will ich überhaupt? Und nicht, was denke ich, was ich will, weil die anderen es von mir erwarten. Wenn ich keine Klarheit darüber habe, was ich will, kann ich den Weg nicht finden. Dann gebe ich die Verantwortung ab.
Führen nach Cordt bedeutet eine Entwicklung der Persönlichkeit des Menschen. Der Mensch hat sich erst mal selbst zu führen und voranzubringen. Diese neue Führungskompetenz des Menschen nimmt der Hund wahr, was seine Entwicklung und das Zusammenleben mit ihm sehr erleichtert. Der Hund regt den Menschen an, an sich zu arbeiten, er ist der Anstupser.“
Was macht einen guten Hundeführer aus?
„Der Mensch muss sensibilisiert werden, wie sehr sich seine Führungskompetenz in seinen Gedanken, in seiner Haltung, in seinen Bewegungen und dem Umgang mit anderen ausdrückt: Wer andere klein macht, um sich groß zu fühlen, ist nicht wirklich groß! Eine Führungspersönlichkeit liebt es, andere wachsen zu sehen. Zu sehen, wie sie immer mehr in ihr inneres Gleichgewicht kommen, sie glücklich sind.
Ein guter Hundeführer gibt dem Hund bereitwillig Halt in den Momenten, in denen er ihn braucht und freut sich daran, wie unter dieser Anleitung der Hund gute Erfahrungen machen kann und immer stabiler und immer ausgeglichener wird. Der Hund verhält sich ungehalten, weil er nicht gehalten ist! Er findet keinen Halt im Menschen. Daher sollte das Credo heißen: ‚Halten wenn ungehalten‘ und nicht ‚Niedermachen, wenn ungehalten‘.“
„Wer denkt, dass der Mensch immer gewinnen muss, erzeugt nur Verlierer auf beiden Seiten“
Für viele Menschen ist Führen gleichzusetzen mit Dominanz und Strenge.
„Führen wird mit Niedermachen gleichgesetzt. Das ist das große Missverständnis. Von erfolgreichen Unternehmen weiß man, dass Mitarbeiter gefördert werden müssen. Beim Hund hingegen haben wir diesen Dominanzgedanken und die Rangordnung im Kopf. Der Hund hat zu gehorchen und wenn er nicht gehorcht, ist er aufmüpfig. Oft ist der Mensch aber viel zu unkonkret in dem, was er vom Hund möchte. Viele haben Angst davor, ihren Hund zu stärken. Vor allem, wenn es ein auffälliger Hund ist.“
Warum, glaubst du, ist das so?
„Die Menschen haben Sorge, dass der Hund noch stärker wird. Aber es geht darum, die innere Stabilität, die Psyche zu stärken. Ein Lebewesen reagiert nur außer sich, weil es nicht mehr in der Balance ist. Es muss Halt bekommen. Führen heißt auch, sich in den anderen hineinzufühlen. Man darf sich nie in die Irre leiten lassen durch eine Angst, ‚jetzt hat der Hund wieder gewonnen‘. Wer denkt, dass der Mensch immer gewinnen muss, erzeugt nur Verlierer auf beiden Seiten.“
Wie wird man zur Führungspersönlichkeit?
„Bis man zur Führungspersönlichkeit geworden ist, laufen wir sozusagen an Krücken. Erst mal müssen die Techniken erworben werden. Später hat man es dann verinnerlicht. Man geht aufrechter, nicht nur körperlich, sondern vor allen Dingen auch in seinen Gedanken und in seiner mentalen Verfassung. Diese Ausstrahlung kann jeder erreichen, der bereit ist, den Weg dafür zu gehen und an sich zu arbeiten!“
Mirjam Cordt: „Der Hund ist leinenführig, der Mensch nicht“
Welche Fehler machen die meisten Hundehalter?
„Sie treten zu hart auf. Beispiel Leinenführigkeit: Der Mensch geht mit dem Hund spazieren, der Hund zieht an der Leine. Was macht der Mensch? Er wechselt abrupt die Richtung. Was hat das mit Führung zu tun?! Stell dir mal vor, dein Partner geht mit dir durch die Fußgängerzone und reißt dich jetzt mal am Arm in eine andere Richtung. Das würde jeder befremdlich finden, man würde solch einen Menschen zunehmend als unberechenbar empfinden.
Der Hund ist leinenführig, der Mensch nicht. Wir wohnen zum Beispiel am Hang. Ich beobachte jedes Mal, dass Hundehalter sich von ihrem Hund hier hochziehen lassen. Da wird das Ziehen als angenehm empfunden. Zieht aber der Hund auf dem Weg nach unten, wird sich beschwert und dem Hund dafür die Schuld gegeben. Wir Menschen sind zu wenig achtsam.“
„Die Leine ist wie Händchenhalten“
Welche Denkweise sollten wir in puncto Leinenführigkeit haben?
„Die Leine soll Halt geben. Sie ist wie Händchenhalten. Das sollte die Intention dahinter sein. Viele haben Angst, dem Hund Liebe zu zeigen, weil sie Angst haben, ausgenutzt zu werden. Vor allem, bei verhaltensauffälligen Hunden. Es wird so oft über Konsequenz geredet, dies aber falsch umgesetzt, nämlich mit einem konsequent harten Durchgreifen ohne zu erkennen, was hinter dem unerwünschten Verhalten steckt!
Das, was konsequent durchgezogen werden sollte, ist, dem Hund einen liebevollen und wertschätzenden Umgang entgegenzubringen – egal, wie er sich verhält. Konsequent liebevoll und nicht nur liebevoll, wenn der Hund sich gerade so verhält, wie es dem Menschen in dem Moment angenehm ist.“
Das bedeutet, man sollte den Hund auch in unangenehmen Situationen Liebe zeigen?
„Genau, daher versteht sich mein ‚Ich halte dich-Trainingskonzept‘ auch als ein ‚Ich halte dich. Ich halte dich auch aus!‘. Man darf Liebe nicht an Bedingungen knüpfen. Erst recht nicht, wenn es um jemanden geht, den wir in unser Leben geholt haben. Menschen, die ihren Hund lieben, obwohl er verhaltensauffällig ist, werden oft als zu weich bezeichnet. Dann versucht sich dieser Mensch härter zu verhalten, obwohl er spürt, dass dies nicht der richtige Weg sein kann und was entsteht aus diesem inneren Konflikt? Frust. Dieser macht schlechte Laune und wer ist daran schuld? Der Hund!“
Die Gedanken drehen sich nur noch um den ausrastenden Hund
Frust haben viele Hundehalter vor allem, wenn der Hund an der Leine ausrastet
„Die Hundehalter haben Angst, dass sie als unfähig angesehen werden könnten, weil sie ihren Hund ‚nicht im Griff‘ haben. Sie wissen nicht, wie sie reagieren sollen, fühlen sich oftmals hilflos. Oder sie setzen das um, was ihr Umfeld von ihnen erwartet: kompromisslos und konsequent hart durchgreifen, den Hund mundtot machen. Dieser Zwiespalt löst Frust aus.
Die Gedanken drehen sich nur noch um den ausrastenden Hund. Die gesamte Aufmerksamkeit geht dahin. Dieses Bild vom Kampf, die Gedanken daran, spiegeln sich im Körper des Menschen. Mal mehr, mal weniger deutlich für andere Menschen. Wer dies aber immer registriert - auch durch die Hormonausschüttungen – ist der Hund! Somit ist Gedankenhygiene absolut wichtig!“
Was genau meinst du damit?
„Kontraproduktiv sind die Gedanken: ‚Was will ich nicht mehr sehen? Er soll nicht mehr bellen.‘ Diese sollten bereinigt werden in: ‚Was will ich denken, was ist mein Ziel, wo will ich hin?‘ Ich habe das Ziel, er geht gut am anderen Hund vorbei, fühlt sich wohl und ich gebe ihm Halt! Auch das drückt man unbewusst im Körper aus, aber in positiver Art und Weise!“
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Mirjam Cordt: „Einfach mal ‚Ruhe‘ auf die Hand schreiben“
Die meisten Hundehalter haben vor allem zwei Probleme: die Leinenführigkeit und dass ihr Hund zu anderen Hunden hin möchte. Mit welchem kleinen Schritt können sie die erste positive Veränderung auf ihrer Gassirunde erzielen?
„Viele Menschen wollen entweder gar nichts mehr unternehmen, oder alles gleich perfekt machen. Wie wäre denn, wenn man bereit ist, erst mal nur einen kleinen Schritt zu machen? Einfach mal ‚Ruhe‘ auf die Hand schreiben. Oder einen Smiley auf die Hand zeichnen und das auch anwenden. Also, auf die Mimik achten.
Die Hunde können sehr gut unsere Emotionen lesen und ordnen diese dem zu, auf das wir uns in dem Moment konzentrieren. Somit sollte ich die anderen Hundehaltern, die andere Hund mit einer freundlichen Mimik anschauen und nicht verärgert oder ängstlich, weil gleich mein Hund reagieren könnte. Zu lächeln ist eine Entscheidung. Wem dies schwerfällt sollte bedenken, dass wir aber genau dies permanent von unseren Hunden erwarten. Bei Hundebegegnungen bewirkt das schon viel.“
Was kann man noch tun?
„Der nächste Punkt ist, die Hände und die Schultern tief zu halten. Die Körperfront zeigt dahin, wo man hingeht, zum Ziel und nicht zum Hund. Selbst wenn der Hund zur Seite schießt, muss man die Körperfront da lassen, wo man hin möchte. Eine leichte Körperöffnung zum Hund gibt diesem Halt, aber der Fokus in der Körperausrichtung ist zum Ziel. Gerne dabei den Hund immer wieder freundlich ansprechen, ihm freundlich zunicken. Erst recht, wenn er von sich aus den Blick sucht, dieser sollte freundlich und ohne Kommando erwidert werden. Wenn man also Folgendes beherzigt: Lächeln, Hände tief, Schultern tief, Babysprache, dann ist das schon bindungsfördernd. Allein das Lächeln bewirkt schon viel.“
Warum fällt es Menschen so schwer, die Bedürfnisse des Hundes lesen zu lernen?
„Ich glaube, dass viele Menschen spüren, was in ihrem Hund vorgeht. Sie bekommen aber eingetrichtert, dass der Hund sich über sie stellen will. Deshalb hören sie nicht auf ihr Gefühl. Sie wollen nicht zu weich sein, weil ihnen der Hund sonst angeblich auf der Nase herumtanzt. Ich kann diese Sprüche nicht mehr hören: ‚Dein Hund will kontrollieren. Der dominiert dich, der stellt sich über dich.‘
Führung und Bedürfnisse zu erkennen, gehört zusammen. Genau wie bei Kindern ist auch bei Hunden das Ziel, dass sie Herausforderungen zunehmend möglichst selbst handeln können und nicht immer den Halt von seinem Menschen benötigen, um nicht ungehalten zu reagieren. Den Halt auch in sich selbst zu finden ist wichtig. Für den Hund, aber auch für den Menschen.“