22. Juli 2024, 16:49 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
In der Reihe „Problemfälle aus der Praxis“ stellt Hundetrainerin Katharina Marioth bei PETBOOK Hunde mit herausfordernden Verhaltensproblemen vor und erzählt, wie sie den Tieren und deren Besitzern geholfen hat. Dieses Mal geht es um den Ridgebackrüden Henry, der schon mehrmals gebissen hat – sogar innerhalb der Familie.
Heute stelle ich Ihnen Henry vor: Henry ist ein dreijähriger Rhodesian Ridgeback, der wegen Aggressionsverhalten zu mir kam. Der Rüde lebt in einer vierköpfigen Familie – das jüngste Kind ist zwölf Jahre alt. Henry kam nach einer Anzeige beim Ordnungsamt mit einer amtlichen Trainingsauflage für sechs Monate zu mir ins Training.
Voriger Trainer hatte Stachelhalsband verordnet
Bei der Erstvorstellung wurde Henry mit Geschirr, Stachelhalsband, Maulkorb und zwei Leinen gesichert vorgestellt. Dass das Stachelhalsband sofort heruntermusste, verwunderte die Halter. Ihr letzter Trainer hatte ihnen dazu geraten. Der Verweis aufs Tierschutzgesetz war ihnen unbekannt.
Laut den Angaben der Besitzer würde Henry lediglich auf andere große Rüden aggressives Verhalten zeigen. Henry zeigte in der ersten Stunde massives Stresskreiseln und keinerlei Impulskontrolle. Er sprang wie wild an seinen Haltern hoch und war zu keiner Zeit in der Lage, sich draußen auf seine Besitzer zu konzentrieren.
Henry wurde gefühlt alle zwei Minuten angebrüllt
Ich ließ mir zeigen, wie die Familie bisher mit ihm trainiert hat: Henry wurde gefühlt alle zwei Minuten angebrüllt: „FUSS!“ Dazu gab es einen kräftigen Ruck am Halsband. Wenn der Rüde stehen bleiben sollte, gab es ein brüllendes „SITZ“ und die Haut am unteren Rücken wurde gekniffen und hochgezogen. „Da setzt sich der Hund dann schneller“, erklärten die Halter. Bei einem „PLATZ“, wurde der Hund in die Nierengegend gekniffen und kräftig am Halsband nach unten geruckt. Ich schaute mir nur je einen Durchgang an. Alle anderen „Befehle“ ließ ich mir aus Rücksicht auf den Hund lediglich erklären.
Es fiel sofort auf, dass Henry bei Bewegungen mit den Armen seiner Besitzer häufig zuckte und ein ambivalentes Verhalten zwischen Drohfixieren und Ausweichen zeigte. Bei der ersten Hundebegegnung fiel Henry in sogenanntes Opferscanning: Er fixierte offen, mit sicherer Körperhaltung offensiv nach vorn gerichtet, den anderen Hund.
Auch interessant: Darf der Hund mich anknurren? Das rät „Deutschlands beste Hundetrainerin“
Dieser Hund meinte es ernst
Als die Besitzer ihn ansprachen und einen Impuls in die Leine setzten, richtete sich Henry um und stieg an seinem Besitzer hoch Richtung Kehlkopf, verharrte dort und drohte knurrend, sicher nach vorn gerichtet. Dieser Hund meinte es ernst.
Obwohl die Besitzer in meinem Anamnesebogen lediglich angegeben hatten, dass er „Probleme“ mit anderen Hunden hätte, fragte ich erneut nach, ob es wirklich keine Vorfälle in der eigenen Familie gegeben hätte, denn ich war mir sicher: Dieser Hund hatte Erfahrung gemacht, wie er sich seine Besitzer „vom Hals“ halten konnte. Leise gestanden die Besitzer, dass er in der Familie bereits mehrfach schwer gebissen hatte, zuletzt mit 16 Löchern und Krankenhausaufenthalt für die Tochter.
Henry hatte gelernt: Ich muss meine Zähne einsetzen
Mir gegenüber zeigte sich Henry als anschmiegsamer, sehr sicherer Rüde, den man aber genau im Blick behalten musste. Henry ist ein typisches Beispiel aus meiner Praxis, in der ein Hund Aggressionsverhalten gelernt, um seine eigene körperliche Unversehrtheit zu schützen.
Henry hatte aus seiner Sicht unter anderem Folgendes gelernt:
- Wenn ich mit meinen Menschen umgehe, wird es schmerzhaft für mich.
- Wenn ich einen anderen Hund sehe, wird es schmerzhaft für mich.
- Beschwichtigen bringt nichts. Ich muss meine Zähne einsetzen, damit ich in Ruhe gelassen werde.
Das hatte das Aggressionsverhalten beim Ridgeback ausgelöst
Strafe kann das Aggressionsverhalten bei Hunden tatsächlich fördern und verschlimmern. So war es auch bei Henry. Hier sind einige der Mechanismen und Gründe, warum dies der Fall ist:
- Erhöhte Angst und Stress:
Strafen, die körperlichen Schmerz oder starke Angst verursachen, können zu erhöhter Angst und Stress bei Hunden führen. Hunde reagieren auf Angst oft mit Aggression als Abwehrmechanismus.
- Missverständnisse und Verwirrung:
Hunde können Strafen oft nicht mit dem spezifischen Verhalten in Verbindung bringen, das bestraft werden soll. Dies führt zu Verwirrung und Frustration, die wiederum aggressive Reaktionen hervorrufen können.
- Verstärkung der negativen Assoziationen:
Wenn ein Hund in einer bestimmten Situation bestraft wird, kann er beginnen, diese Situation mit negativen Erfahrungen zu verbinden. Dies kann dazu führen, dass der Hund in ähnlichen Situationen aggressiv reagiert, um sich zu schützen.
- Erlernte Aggression:
Hunde können lernen, dass Aggression eine wirksame Methode ist, um unangenehme Strafen oder Situationen zu vermeiden. Dies kann besonders problematisch sein, wenn der Hund in der Vergangenheit Erfolg damit hatte, durch aggressives Verhalten Strafen zu entgehen.
- Gebrochene Bindung und Vertrauen:
Strafen können die Bindung und das Vertrauen zwischen Hund und Halter zerstören. Ein Hund, der seinem Halter nicht vertraut, ist eher bereit, aggressiv zu reagieren, insbesondere wenn er sich bedroht oder unsicher fühlt.
Beispiele für Strafen, die Aggression fördern können
Bei Henry waren die Strafen, also das Kneifen in die Seiten, damit sich der Rüde schneller ins „Sitz“ begibt, ein wichtiger Auslöser. Sie förderten zudem das Aggressionsverhalten des Ridgebacks. Aber nicht nur körperliche Strafen haben diesen Effekt.
Folgende „Erziehungsmethoden“ können das Aggressionsverhalten bei Hunden fördern:
- Physische Strafen: Schlagen, Treten oder starkes Rucken an der Leine können direkt aggressive Reaktionen hervorrufen oder eine allgemeine Neigung zu Aggression fördern.
- Einschüchternde Gesten: Schreien, Bedrohungsgesten oder das aggressive Nähern können den Hund verängstigen und eine aggressive Reaktion auslösen.
- Negative Verstärkung: Methoden, die dem Hund unangenehme Reize zufügen, um unerwünschtes Verhalten zu stoppen, wie z. B. Schmerzreize, können Aggression als Reaktion fördern.
So haben wir das Aggressionsverhalten beim Ridgeback in den Griff bekommen
Um Henrys Aggression nicht weiter zu fördern, habe ich dazu geraten, die Strafe im Training durch positive Verstärkung zu ersetzen. Das bedeutet, gewünschtes Verhalten mit Leckerlis, Lob oder Spielzeug zu belohnen. Dies motiviert den Hund, das erwünschte Verhalten zu wiederholen, ohne Angst oder Stress zu verursachen.
Weitere positive Alternativen zur Strafe sind:
- Umleitung: Lenken Sie den Hund von unerwünschtem Verhalten ab und bieten Sie ihm eine positive Alternative. Zum Beispiel, anstatt den Hund zu bestrafen, wenn er an Möbeln kaut, bieten Sie ihm ein geeignetes Spielzeug zum Kauen an.
- Training und Sozialisation: Regelmäßiges Training und die Sozialisation des Hundes mit anderen Hunden und Menschen können helfen, Aggression zu verhindern und das Vertrauen zu stärken.
- Management und Prävention: Vermeiden Sie Situationen, die bekanntlich aggressives Verhalten auslösen, und schaffen Sie eine sichere und berechenbare Umgebung für Ihren Hund.
Problemfälle aus der Praxis Französische Bulldogge attackierte Baby! Wie die Hundetrainerin den Fall löste
Tragegriff Sollte man Katzen am Nacken tragen? Das raten Experten
Anbellen und Schnappen Was kann ich tun, wenn mein Hund aggressives Verhalten zeigt?
Fazit aus dem Fallbeispiel
Das Fallbeispiel von Ridgeback Henry zeigt, dass Strafen Aggressionsverhalten bei Hunden fördern und verschlimmern können, indem sie Angst, Stress und Unsicherheit verursachen. Positive Trainingsmethoden, die auf Belohnung und geduldiger Anleitung basieren, sind effektiver und fördern ein gesundes und stabiles Verhalten. Sie stärken die Bindung und das Vertrauen zwischen Hund und Halter und tragen zu einer harmonischen Beziehung bei.
Das war dann auch bei Henry der Weg – und es war schwerer, die Menschen zu trainieren als diesen eigentlich tollen Hund.
Besuchen Sie Katharina Marioth auch bei Instagram.