16. Januar 2024, 17:51 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Kastrieren oder nicht kastrieren? Das ist eine große Frage, die sich Hunde- und Katzenhalter mindestens einmal im Lebens ihres Haustieres stellen. Doch viele möchten ihren Vierbeinern einen solchen Eingriff aus verschiedenen Gründen ersparen. Wie praktisch, dass jetzt Unternehmen „natürliche Alternativen“ auf Pilz- und Kräuterbasis anbieten. PETBOOK sprach mit einer Veterinärin über die angeblichen Wundermittel.
Es sind vollmundige Versprechen, die eigentlich zu gut klingen, um wahr zu sein. So heißt es in der bunten Werbung bei Instagram und Co, dass man Hunden und Katzen eine Kastrations-Operation mit Heilpilzen ersparen könne. Und das mit natürlichen Alternativen auf Vitalpilz- und Kräuterbasis – ganz ohne jede Chemie!
Natürlich lässt so ein Versprechen Tierhalterherzen höher schlagen, denn Operationen sind nicht nur teuer, sondern können auch – wie grundsätzlich jeder Eingriff – Risiken mit sich bringen und sind in jedem Fall für die Tiere eine enorme Belastung. Doch was steckt hinter solchen Versprechen? PETBOOK sprach mit der Tiermedizinerin Dr. Vanessa Herder über die angeblichen Effekte der Superpilze.
Das versprechen die Hersteller
Mal Hand aufs Herz: „Back to Nature“ klingt natürlich immer besser, als sich oder seinem Haustier bei Wehwehchen die Chemie-Keule zu geben. Da ist es doch regelrecht verführerisch, dass diese Wunderpilze angeblich auch bei Scheinträchtigkeit, Hyperpotenz, Arthrose und Giardien helfen sollen. Allesamt ernst zu nehmende Leiden, die Tieren das Leben schwer machen können.
So sollen die „ausgewählten Vitalpilze und Heilkräuter“ die Regulation des Hormonhaushalts bei Hunden unterstützten, heißt es dazu beispielsweise bei einem der Hersteller auf der Web-Seite: „So beruhigt sich der Hund und wird wieder zu deinem Liebling.“
Doch ist das wirklich möglich? Können natürliche Kräuter und Pilze, die man dem Futter ganz einfach beimischen soll, tatsächlich das, was normalerweise eine Kastrations-Operation macht? Denn hier geht es um einen Eingriff mit Folgen, der sich nicht wieder rückgängig machen lässt.
Können Heilpilze eine Kastration ersetzen?
„Bei einer Kastration wird das Tier unfruchtbar gemacht und die weitere Produktion von Hormonen wird für immer unterbunden“, heißt es dazu auf der Seite der Tierklinik Oberhaching. Konkret bedeutet das, dass bei dieser Operation die Keimdrüsen der Tiere – also die Hoden oder Eierstöcke – dauerhaft entfernt werden und die Tiere sich somit nicht weiter fortpflanzen können. Daher ist dieses Pilzwundermittel schon ein sehr großes Versprechen.
Laut dem Social-Media-Auftritt eines dieser Hersteller sind diesem Versprechen bereits einige Hundehalter gefolgt. So heißt es im Erfahrungsbericht einer Userin dazu: „Unser Hund und unsere Hündin, beide nicht kastriert – und dabei soll es auch bleiben! Beide bekommen es, wenn unsere Hündin läufig ist, ins Futter gemischt. Beide komplett entspannt. Zu den Stehzeiten werden sie dann die 4 oder 5 Tage getrennt. Es ist sehr schön mitanzusehen, wie entspannt es ablaufen kann.“
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Tierärztin über Verhütung mit Heilpilzen: „Mir wäre das zu riskant!“
Doch wie schätzt ein Veterinär dieses vollmundige Versprechen – Vitalpilze statt Kastration – ein? „Ich denke, das ist ein sehr gewagtes Statement!“, so Tiermedizinerin Dr. Vanessa Herder im Gespräch mit PETBOOK. „Angenommen, ich habe drei Hunde, unkastriert und unterschiedlichen Geschlechts. Wenn ich denen nur diese Pilze füttere, würde ich nicht sicher gehen, dass die Hündin oder der Rüde steril sind.“
Zur Erklärung: Der Begriff „steril“ meint in medizinischer Sprache etwa so viel wie „unfruchtbar“. Daher fällt das Fazit der Tierärztin recht deutlich aus: „Das wäre mir zu riskant!“
Die Sache mit dem Durchfall
Hinzukämen auch weitere Faktoren wie beispielsweise Krankheiten oder Unwohlsein des Vierbeiners, gibt Dr. Vanessa Herder zu bedenken: „Wenn der Hund vielleicht mal Durchfall hat oder es ihm nicht gut geht und er deshalb nicht so viel Futter aufnimmt und damit dann auch diesen Pilz nicht, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Hund dann doch tragend wird, relativ hoch.“
Tatsächlich könne es sogar durch einzelne Stoffe dieses Präparates bei Hunden zu Durchfall kommen, räumt das Unternehmen auf seiner Seite ein. „Vitalpilze haben keinerlei zugewiesene Nebenwirkungen. Da ihre Zellwände aus Chitin bestehen, einem für Säugetiere schwer verdaulichen Stoff, kann es bei einzelnen Tieren zu Beginn der Behandlung zu leichten Durchfällen kommen.“ Diese seien jedoch nicht schlimm und gingen nach einigen Tagen von allein wieder weg. Doch wie es in dieser Zeit mit dem Verhütungssturz der Tiere aussieht, wird auf der Seite nicht weiter erläutert.
Der Kostenfaktor von Heilpilzen sollte nicht unterschätzt werden
Fragwürdig findet die Expertin auch die ungenauen Angaben der Zusammensetzung der Präparate. „Wenn ich diese Pilze füttere, enthalten die im Fall dieses einen Produkts dieses Cordycepst, was ja als isolierter Wirkstoff auch eine bestimmte Dosis haben müsste. Was wir aber, wenn wir diese Pilze füttern, nicht wissen ist, was die genaue Dosis ist.“ So ließen sich die genauen Inhaltsmengen der jeweiligen Inhaltskomponenten nicht klar nachvollziehen, was im Zweifelsfall aber wichtig sein könnte.
Hinzukomme auch der finanzielle Aspekt. Die langfristige Gabe eines solchen Präparates sei auf Dauer auch nicht gerade günstig: „Wenn man lebenslang 44 Euro für 200 Gramm bezahlt und jeden Tag einen Teelöffel oder eine Einheit füttert, da weiß ich nicht, wenn ich nur über den Preis argumentiere, ob das langfristig und lebenslang günstiger ist“, so Dr. Herder weiter.
Heilpilze können schon helfen, aber …
Doch zurück zu all den anderen Versprechen, die mit diesen Wunderpilzpräparaten „therapiert“ werden können: Scheinträchtigkeit, Hyperpotenz, Schildrüsenober- und unterfunktion etc. Ist das denn überhaupt möglich? Die Wirkstoffe, die in Vitalpilzen, wie dem Reishi oder dem Maitake stecken, können tatsächlich in gewissen Fällen positive Einflüsse haben, erklärt Dr. Herder.
„Wenn die Scheinträchtigkeit oder die Hyperpotenz nicht extrem sind, kann das vielleicht unterstützend wirken, weil wir ja wissen, dass in diesen Pilzen auch ein biologisch aktiver Wirkstoff ist. Ich bin mir aber nicht sicher, dass man sagen kann, dass das für alle Hunde in jeder Situation funktioniert. Da wäre ich sehr vorsichtig mit.“
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Schwerwiegendere Erkrankungen sollten vorher ausgeschlossen werden
Möglicherweise könnten diese Stoffe bei Hunden mit geringer Scheinträchtigkeit oder Hyperpotenz eine leicht mildernde Wirkung zeigen. Zumindest, wenn es sich um leichte Symptome handele und ausgeschlossen werden könne, dass es sich hier nicht um schwerwiegendere Erkrankungen wie beispielsweise einen Tumor handelt, sagt Herder.„Wenn ich dann zusätzlich noch diese Pilze füttere, die bei bestimmten Erkrankungen förderliche Substanzen enthalten, dann ist das gut.“
Keinesfalls sollte man sich hingegen bei schwerwiegenden Erkrankungen nur auf die Wirkung der Pilze verlassen: „Unterstützend kann dies sinnvoll sein, aber alleine damit therapieren – nein!“, so die Tiermedizinerin entschieden. Schwerwiegende Erkrankungen sollten unbedingt erst mal von einem Tierarzt diagnostiziert werden, mahnt die Medizinerin. Dieser könnte dann auch einen Behandlungsplan erstellen und gegebenenfalls bei Fragen zu Pilzen Antwort geben.