17. Januar 2024, 16:34 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Als im Jahr 1986 der Reaktor 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl explodierte, mussten Zehntausende Menschen ihre Heimat verlassen – und auch ihre Haustiere. Doch die Natur ließ sich nicht unterkriegen und auch die Hunde von Tschernobyl haben sich an die Radioaktivität angepasst.
In der Nacht vom 26. April 1986 explodierte Reaktor 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl in der Ukraine – und die wohl größte Umweltkatastrophe der menschlichen Geschichte nahm ihren Lauf. Binnen 36 Stunden wurden über 47.000 Menschen in Bussen aus der nahegelegenen Stadt Prypjat und weiteren Ortschaften evakuiert. Damals wurde den verängstigten Menschen versichert, dies sei nur eine Vorsichtsmaßnahme, man solle nur wenig mitnehmen und könne bald zurückkehren. Doch dieses Versprechen konnte angesichts des GAU (Größter Anzunehmender Unfall) im Atomkraftwerk natürlich unmöglich eingehalten werden. So blieben alle Habseligkeiten zurück – und leider auch die Haustiere der Bewohner von Prypjat, von denen vielen die radioaktive Verseuchung der Umgebung nicht überlebten. Doch über drei Jahrzehnte nach der Katastrophe findet sich Leben in der Sperrzone! Wissenschaftler sind seit 2017 vor Ort und haben die Tiere über Jahre hinweg untersucht. Wie die verwilderten Hunde von Tschernobyl sich an das Leben mit Radioaktivität angepasst haben.
Wie eine Population halbwilder Hunde im Sperrkreis entstand
Nach der Katastrophe gab es Bestrebungen, die zurückgelassenen Haustiere zu keulen, damit sie die radioaktive Verseuchung nicht weiter tragen. Jedoch scheinen die Jäger damals nicht alle Tiere gefunden zu haben. Denn sobald die Aufräumarbeiten in Tschernobyl begannen, fanden die Arbeiter wieder streunende Hunde vor, die sie versorgten und aufpäppelten. Durch den Anstieg des sogenannten Katastrophen-Tourismus lernten auch die verwilderten Folgegenerationen, mit der Anwesenheit des Menschen umzugehen. So entstand eine stabile Population von halbwilden, ehemaligen Haustieren im Sperrkreis, teilweise gab es über 900 verwilderte Hunde in der Region um das Atomkraftwerk.
Bereits 2015 hatten Forscher herausgefunden, dass es auch den wildlebenden Tieren in der Natur rund um den explodierten Reaktor Tschernobyls besser geht als erwartet. Sie gingen sogar so weit zu sagen, dass die der Radioaktivität ausgesetzte Natur es besser habe ohne den Menschen. In der ehemaligen Sowjetunion gab es Bestrebungen, auch die radioaktiv verseuchten Wildtiere zu dezimieren, doch auch dies ist nicht gelungen und die Natur setzte sich durch.1
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Tschernobyl-Hunde bilden mehrere unterschiedliche Familien
Seit 2017 beschäftigt sich das Forschungsprojekt „Dogs of Chernobyl“ (z.Dt. Hunde von Tschernobyl) exklusiv mit den Hunden vor Ort. Sie werden medizinisch versorgt, getrackt und ihre radioaktive Belastung gemessen. Gabriela Spatola und ihre Kollegen vom Nationalen Institut für Humangenom-Forschung im US-amerikanischen Bundesstaat Maryland haben sich vor allem mit der Frage beschäftigt, welche Auswirkungen eine langfristige, niedrig dosierte ionisierende Strahlenbelastung auf die Tiere hat. Dazu führten sie unter anderem Blutuntersuchungen bei den verwilderten Hunden durch.
Dabei stellte sich heraus, dass man die DNA der Tiere auf 15 verschiedene Rudel zurückführen konnte, die sich genetisch voneinander unterscheiden und auch verschiedene Grade der Mutationen aufwiesen. Für die genetische Untersuchung der Hunde wurden Exemplare untersucht, die auf dem Gebiet des Atomkraftwerkes zu finden waren, sowie die Populationen aus dem Umkreis. Insgesamt untersuchten die Forscher 302 Hunde in einem Umkreis von 45 Kilometern um den explodierten Reaktor.
Entgegen der biologischen Annahme, dass Tiere sich zufällig paaren, wenn sie im gleichen Gebiet beheimatet sind, zeigte sich eine einzigartige familiäre Struktur bei den Hunden aus Tschernobyl und der Umgebung. So paarten sich die Tiere tatsächlich häufiger mit Artgenossen aus der näheren Umgebung und mit demselben Grad an radioaktiver Belastung. Gerade unter den Hunden, die lange isoliert auf dem Gelände des Reaktors lebten, zeigte sich eine starke genetische Ähnlichkeit zueinander. Zudem gebe es Hinweise, dass die Tiere auf dem Gelände des AKW dort bereits länger leben, als die weiter entfernten Populationen.2
Die Untersuchungen der Hunde von Tschernobyl dauern an
Tim Mosseau, Mitautor der Studie, sagte dem US-amerikanischen Fernsehsender ABC News, dass sich noch weitere Besonderheiten an den Hunden in Tschernobyl feststellen ließen, die eindeutig auf radioaktive Veränderungen zurückzuführen seien. So hätten die Hunde etwa einen höheren Anteil an Katarakten, also Krankheiten wie dem Grauen Star. Die Wissenschaftler suchten auch weiter nach anderen Anomalien, wie Tumoren, verkleinerten Hirnen oder Symmetrieveränderungen der Tiere.
Die Forscher konnten allerdings noch nicht feststellen, ob die heute in Tschernobyl lebenden Hunde von den damals zurückgelassenen Tieren abstammen, oder ob sich über die Jahre andere Tiere dort ansiedelten und heute fern von Menschen lebten. Dies müsse man in weiteren Untersuchungen, die sich mit der tiefgehenden „genetischen Vernarbung“ der Tiere beschäftigt, feststellen.
„Die Hundepopulation von Tschernobyl bietet ein großes Potenzial für Studien zum Umweltressourcenmanagement in einer wiederauflebenden Population“, schreiben die Forscher am Ende ihrer ersten Untersuchung der Hunde von Tschernobyl. „Ihr größtes Potenzial liegt jedoch im Verständnis der biologischen Grundlagen des Überlebens von Tieren und letztlich auch von Menschen in Regionen mit hohen und anhaltenden Umweltbelastungen.“2
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Quellen
- Deryabina, T. G., Kuchmel, S. V., Nagorskaya, L. L., Hinton, T. G., Beasley, J. C., Lerebours, A., & Smith, J. T. (2015). Long-term census data reveal abundant wildlife populations at Chernobyl. Current Biology, 25(19), R824-R826.
- Spatola, G. J., Buckley, R. M., Dillon, M., Dutrow, E. V., Betz, J. A., Pilot, M., … & Mousseau, T. A. (2023). The dogs of Chernobyl: Demographic insights into populations inhabiting the nuclear exclusion zone. Science Advances, 9 (9), eade2537.