24. November 2023, 10:26 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
In ihrer Kolumne „Unser Welpe Elvis“ beschreibt PETBOOK-Autorin Manuela Lieflaender das Leben mit ihrem Junghund. Seit einiger Zeit zeigt er jedoch starke Stresssymptome. Kann ein Treffen mit einer verhaltensmedizinischen Tierärztin endlich Licht ins Dunkel bringen und eine Diagnose für Elvis stellen?
Unter dem Esszimmertisch sehe ich, wie sich Elvis plötzlich im Kreis dreht und seine Rute jagt. Das hat der Australian Shepherd noch nie bei Besuch gemacht. Dieser Besuch ist allerdings kein gewöhnlicher. Wir haben eine verhaltensmedizinische Tierärztin zu Gast, denn unser Hund leidet unter Stress.
Im Gegensatz zu Hundetrainern beziehen Verhaltensmediziner nicht nur das Gehirn, sondern auch den Körper in die Diagnose mit ein, können auch Medikamente verschreiben. „Das ist ein interessanter Zufall“, sagt Dr. Maria Hense. „Elvis ist in dieser Woche der dritte Hund, den ich wegen einer repetitiven Verhaltensstörung sehe.“
Früher nannte man „repetitive“ Störungen eine Stereotypie, also vereinfacht gesagt, eine Aktion, die immer gleichbleibend wiederholt wird und scheinbar keinen zielgerichteten Charakter hat. Bei Elvis sind das unterschiedliche Aktionen: Rute jagen und beißen, exzessives Trinken, sich das Fell an den Vorderbeinen abkauen, sich in den Schritt beißen oder draußen alles ins Maul nehmen. Die Liste ist im Laufe der Zeit immer länger geworden.
Vor allem junge Rüden zeigen Verhaltensstörungen
Die Verhaltensmedizinerin beobachtet solche Verhaltensweisen vor allem bei jungen Rüden: „Die Hormonveränderungen der Pubertät können bei jungen Rüden ein auslösender oder verschlimmernder Stressor sein.“ Als Stressoren werden verschiedene Faktoren bezeichnet, die das Verhalten eines Tieres nachhaltig beeinflussen und verändern.
Nach ihren Erfahrungen spielt der Bewegungsapparat oft eine Rolle bei solchen Störungen. Das ist nachvollziehbar, denn Elvis ist mit sieben Monaten natürlich noch im Wachstum, da zwickt und zwackt es an verschiedenen Stellen. Manche Hunde sollen sogar „schreien“, wenn man sie an bestimmten Stellen berührt.
Aber kann das wirklich die Ursache für diese ganze Reihe an Verhaltensauffälligkeiten sein? Die Medizinerin ist ehrlich: „Man findet nicht immer heraus, was an der Entstehung der Störung beteiligt ist.“
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Hat Elvis eine genetische Veranlagung?
Die Fachliteratur nimmt an, dass für ein Verhalten wie das Rute-Jagen eine genetische Grundlage notwendig ist. Nur bestimmte Hunde neigen zu diesen Verhaltensstörungen. Ein sensibler, reizempfindlicher und intelligenter Hund wie der Australian Shepherd kann also prädestiniert für solche Probleme sein.
Meine damalige Aussie Hündin hatte als Welpe und Junghund häufig Magen-Darm-Probleme. Im Hundeverein habe ich damals mehrere Aussie-Besitzer kennengelernt, die mir davon berichtet haben, dass ihr Hund diese Krankheiten hatte, bis er zwei Jahre alt war. Stress hat viele Gesichter – auch bei Hunden.
Stress als Auslöser
Experten vermuten, dass eine Verhaltensstörung beim Hund entsteht, wenn dieser eine gewisse Zeit Stress hat. Ein weiterer Faktor löst die Störung dann aus. Das kennen wir von uns selbst: irgendwann kommt der Punkt, der das Fass zum Überlaufen bringt. Dann versucht man zu kompensieren, um wieder ein besseres Gefühl zu bekommen. Man kaut etwa an den Fingernägeln oder sitzt jeden Abend mit der Chipstüte vor dem Fernseher. Die Aussicht auf die Belohnung „Chips“ sorgt für Ausschüttung von Glückshormonen im Gehirn. Das lässt uns immer öfter zu Leckereien greifen.
Bei Hunden kommt es durch das Rute-Jagen ebenfalls zu einer Ausschüttung von Glückshormonen, denn sie haben „Jagderfolg“. Sie bringen sich durch diese Aktionen in einen anderen Zustand, der ihnen helfen soll, mit dem Stress fertig zu werden. Das ist keineswegs harmlos, denn die Verhaltensstörung wird in der Regel schlimmer und setzt immer früher ein.
Kranker Körper, kranke Seele?
Wenn der eigene Körper in Mitleidenschaft gezogen wird, wie es bei Elvis der Fall ist, muss nach einer körperlichen Erkrankung gesucht werden. Diese kann theoretisch alle Organsysteme betreffen.
Zwar konnte bei Elvis bislang keine Krankheit festgestellt werden, aber natürlich macht kein Tierarzt sofort die komplette Diagnostik mit Schilddrüsen-Profil, Blutdruckmessung, MRT und was man sonst noch alles machen könnte. Wir schauen also zunächst, ob auf einer Verhaltensebene eine Veränderung erzielt werden kann. Medikamente möchte Dr. Maria Hense erst mal keine verschreiben.
Unser Trainingsplan
Stattdessen empfiehlt sie eine ganze Reihe von Maßnahmen:
- Tagebuch führen: Wann und in welcher Intensität tritt die Verhaltensauffälligkeiten auf?
- Die Methode „Capturing Calm“ (übersetzt: „Ruhe einfangen“): Wenn der Hund zur Ruhe gekommen ist, mit Leckerli bestätigen.
- Das Entspannungs-Protokoll („Relaxation Protocol“): Darunter versteht man Bleib-Übungen mit verschiedenen Reizen und Futterbelohnung. Konkret bedeutet das, man macht zum Beispiel in der Küche den Abwasch und bestätigt den Hund dafür, dass er mit den Geräuschen während der Bleib-Übung zurechtkommt. Diese Methode stammt von der Wissenschaftlerin Karen Overall „Clinical Manual of Behavioral Medicine in Dogs and Cats“.
- Mandelkernflüstern: Der Begriff Mandelkern-Flüstern stammt aus „The Neurobiology of Attachment Focused Therapy“ von Jonathan Baylin. Der Mensch bringt sich selbst bewusst in eine ruhige, selbstsichere und liebevolle Stimmung. Dies kann sich auf den Hund übertragen. Ähnliches kann man in den Videos von James French „Trust Technique“ sehen. „Ich habe diese Technik bisher erfolgreich bei vielen Tieren angewendet, auch bei sehr aktiven Hunden“, erklärt Dr. Hense.
Welche Regeln passen zu Elvis?
Und was ist, wenn Elvis in Wahrheit viel klare Vorgaben und Grenzen benötigt, frage ich die Fachfrau. „Ich verstehe Ihre Sorge. Regelmäßigkeit bewirkt Sicherheit und führt zu Entspannung.“ Aber: „Regeln, die zu schwierig sind, oder die Strenge erfordern, lösen Stress aus und können seine Störung festigen oder verschlimmern.“
Doch woher weiß ich, ob bestimmte Regeln zu Elvis passen? „Die Regeln müssen das Verhalten des Hundes verbessern, sodass das Leben für den Menschen angenehmer und das Wohlbefinden des Hundes gesteigert wird. Die positiven Veränderungen müssen schnell sichtbar sein, also mehr Zufriedenheit, mehr Entspannung, weniger störendes Verhalten. Manchmal erlebe ich, dass Strenge über Monate oder Jahre angewendet wird – ohne positive Veränderungen. Das ist schlecht.“
Sollte man den Hund zur Ruhe zwingen?
Aus meiner Sicht mangelt es Elvis vor allem an Schlaf. Man sagt, Hunde sollten bis zu 16 Stunden pro Tag schlafen. Doch der Jungrüde steht sogar nachts alle paar Minuten auf, um seinen Schlafplatz zu wechseln. Vielleicht ist es sinnvoll, ihn in einer Box zur Ruhe zu zwingen? „Zur Ruhe zwingen kann helfen“, räumt Dr. Hense ein. „Es sollte aber nur die letzte Möglichkeit sein.“ Manche Fachleute würden darin manchmal die einzig sinnvolle Lösung sehen.
Psychisch gesunde Lebewesen treffen eigene Entscheidungen. Wenn ein Tier in einer Lebensphase dazu nicht in der Lage ist, dann hilft man ihm, erklärt die Expertin. Das heißt: Unsere Aufgabe sei es, dem Tier zu helfen, nach und nach immer mehr Entscheidungen selbst zu treffen (in unserem Sinne). Selbstwirksamkeit sei ein Verhaltensbedürfnis und müsse langfristig ermöglicht werden.
Also ist es durchaus eine Option, den Rüden erst mal mithilfe der Box zu mehr Ruhe zu verhelfen. Doch egal, welche Methode wir anwenden, wir werden immer wieder überprüfen müssen, ob es Elvis damit wirklich besser geht: „Wenn Hunde eine Verhaltensauffälligkeit oder -störung zeigen, dann ist es wichtig, dass die Bezugspersonen ihr Wissen und ihre Fähigkeiten erweitern. Denn die Idee, dass eine Fachperson sofort weiß, was falsch läuft und klar benennt, was gemacht werden soll, ist eine Illusion. Das funktioniert bei Waschmaschinen.“
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Mein persönliches Fazit von dem Termin
Inzwischen arbeiten wir mit einer Excel-Tabelle mit „Datum“, „Symptom“ und „Ursache“, um erkennen zu können, welche Situationen den Hund möglicherweise gestresst haben. Auf diese Weise lernen wir, Elvis besser einzuschätzen.
Die Methode „Capturing Calm“ lehne ich jedoch ab. Ich kenne das „Ruhe bestätigen“ noch aus meiner eigenen Ausbildung zur Problemhundetherapeutin. Bei Elvis habe ich aber die Erfahrung gemacht: sobald Futter ins Spiel kommt, ist er gestresst. Ihm ein Leckerchen vor die Pfoten zu legen, wenn er endlich zur Ruhe gekommen ist, erscheint mir in diesem Kontext also kontraproduktiv.
Gut finde ich, dass Dr. Maria Hense ihre Trainingsansätze wissenschaftlich begründen kann. Auf diese Weise besteht die Möglichkeit, die Techniken nachzulesen oder Videos zu schauen, wie im Fall der „Trust Technique“. Momentan sehe ich diese Technik jedoch noch nicht für Elvis und mich – dafür bin ich am Ende doch zu sehr Pragmatiker.
Wenn Sie mehr über Junghund Elvis und die Entwicklung seiner Verhaltensauffälligkeit erfahren wollen, können Sie hier alle bisher erschienenen Folgen der Kolumne von Manuela Lieflaender nachlesen:
- Folge 1: „Momentan haben wir tatsächlich kein eigenes Leben mehr“
- Folge 2: „Am Ende des Tages ist die erste Seite des Pipi-Tagebuchs voll“
- Folge 3: „Jetzt hab ich richtig Puls und halte an“
- Folge 4: „Der Hund und ich, wir stressen uns gegenseitig“
- Folge 5: „Der Hund beißt sich in den Schwanz! Was ist bloß mit Elvis los?“
- Folge 6: „Der Hund beißt sich nur, wenn du in der Nähe bist!“
- Folge 7: „Der dreiste Dieb! Hund Elvis stiehlt Kartoffeln aus dem Topf“
- Folge 8: „Die Nächte mit Elvis sind eine Katastrophe“