6. März 2023, 17:14 Uhr | Lesezeit: 9 Minuten
Im Februar trafen Syrien und die Türkei die schwersten Erdbeben seit 1939. Tausende von Menschen und Tieren starben. Die Welttierschutzgesellschaft (WTG) unterstützt die einzige Organisation, die in den betroffenen Gebieten in Syrien vor Ort helfen kann. PETBOOK sprach mit Christoph May, dem Pressesprecher des Vereins, über die Situation vor Ort. Noch immer sind die Helferinnen und Helfer täglich im Einsatz, um Tiere in den Trümmern zu suchen und vor Ort gesundheitlich zu versorgen.
Zerstörte Häuser, traumatisierte Menschen und Tausende Tote. Die Bilder vom Ausmaß der Erdbebenkatastrophe in Syrien und der Türkei gingen um die Welt. Die Erdbeben mit immenser Stärke trafen am 6. Februar Regionen in der Südtürkei und Nordsyrien, deren Gesamtfläche der von Deutschland entspricht. Unzählige Menschen verloren an diesem Tag nicht nur ihr Heim, sondern auch ihre Liebsten – darunter auch Tausende Tiere. Während in der Türkei mehrere Tierschutzorganisationen an den betroffenen Gebieten im Einsatz sind, gibt es in Syrien vor Ort nur eine langjährige Partnerorganisation der Welttierschutzgesellschaft, die sich um die Rettung durch das Erdbeben verschütteter Tiere kümmert. Christoph May, Pressesprecher der Organisation, sprach mit PETBOOK über die Lage vor Ort und die Schwierigkeiten bei der Tierrettung in den betroffenen Regionen.
Übersicht
- Momentan steht die Erdbebenhilfe über allem
- Die Helfer müssen sich mit bloßen Händen durch den Schutt graben
- Helfer suchen auf halb zusammengefallenen Gebäuden nach Katzen
- Auch nach Wochen werden noch überlebende Tiere gefunden
- Unzählige Anrufe erreichen die Helfer
- Die größte Herausforderung ist das Ausmaß der Zerstörung
- Rettungsgeschichten, die Mut machen
Momentan steht die Erdbebenhilfe über allem
Am Morgen des 6. Februars erreichte die Mitarbeiter der Welttierschutzgesellschaft, die ihren Sitz in Berlin hat, die Nachricht über Erdbebenkatastrophe in Syrien. Es war genau das Gebiet betroffen, indem sich die Partnerorganisation des Vereins befindet. Dieser arbeitet schon seit über zehn Jahren mit dem „House of Cats Ernesto“ (HCE) zusammen, das sich in Idlib, einer größeren Stadt im Nordwesten Syriens, befindet. Zudem unterstützt die WTG vier Hilfsorganisationen in der Türkei mit finanziellen Mitteln – darunter auch Haytap, eine der ersten Tierschutzorganisationen in der Türkei mit Sitz in Istanbul.
„HCE ist normalerweise für die Grundversorgung von Tieren vor Ort zuständig“, erzählt Christoph May in einem Gespräch mit PETBOOK. „Es gibt in der Region nur wenige Tierärzte. Viele sind nach Jahren des Bürgerkriegs geflüchtet. Die, die noch vor Ort sind, versorgen hauptsächlich Nutztiere.“
Die Organisation HCE betreibt vor Ort eine kostenfreie Tierklinik, zu der die Menschen hinkommen, um ihr Tier zu behandeln bzw. zu versorgen. Zudem gibt es ein Katzenschutzzentrum und eine Farm, wo auch Nutztiere und Hunde unterkommen können, die Versorgung benötigen. „Dort kommen auch Hunde mit Kriegsverletzungen unter, die z. B. auf Minen getreten sind und dort dauerhaft behandelt werden und in Einzelfällen sogar Prothesen bekommen“, ergänzt May. Momentan stehe aber die Erdbebenhilfe über allen. Vor allem auch, weil Gebäude der Tierrettung selbst von dem Beben betroffen sind. So musste das Team während der Nachbeben die Nacht unter freiem Himmel verbringen.
Die Helfer müssen sich mit bloßen Händen durch den Schutt graben
Während in der Türkei pro Organisation mehrere Dutzende Einsatzkräfte vor Ort seien, bestehe das Team in Syrien derzeit aus 17 Personen, berichtet Christoph May PETBOOK. Davon fuhren jeden Tag sechs raus, um Tiere zu retten, die durch das Erdbeben in Not geraten sind. Der Rest bleibe im Schutzzentrum und in der Klinik, um eine Anlaufstation zu bieten. Dabei müssen die Helfer jeden Tag große Distanzen zurücklegen. Die Einsätze seien verschieden, sagt May. „An einem Tag waren unsere Helferinnen und Helfer in einer Region unterwegs, wo ein Damm gebrochen war und alles unter Wasser stand. In einem anderen Fall mussten sie eine Schafherde in einem Geflüchteten-Camp versorgen.“ Aber auch die Suche nach Tieren in Trümmern mache einen großen Teil der Rettungsarbeit aus.
Während für die Suche nach Menschen Spürhunde eingesetzt werden, gibt es Vergleichbares für die Tierrettung nicht. So müssen sich die Helfenden auf ihr Gespür verlassen. Zudem stehe die humane Hilfe vor Ort an oberster Stelle. In der Türkei stehe aber mittlerweile auch schweres Gerät für die Rettung von Tieren zur Verfügung, berichtet May. „In Syrien gibt es das nicht. Die Helferinnen und Helfer müssen sich mit Händen oder einfachem Gerät durch den Schutt graben, wenn sie Tiere aus den Trümmern bergen. Die Lage ist katastrophal und natürlich ist es auch gefährlich in halb zusammengefallenen Gebäuden Tiere zu bergen.“
Helfer suchen auf halb zusammengefallenen Gebäuden nach Katzen
„In der Türkei unterstützen wir zwei Organisationen, die ausgebildete Such- und Rettungsteams einsetzen. Da ist also eine Expertise für Notfälle da. Die Organisationen sind mit den Behörden im Kontakt und können gut einschätzen, wie gefährlich das Betreten eines Gebäudes ist“, führt May aus. In Syrien sei das Team vor Ort für eine Basisversorgung der Tiere ausgebildet. Unter ihnen befänden sich Tierärzte und Tiergesundheitshelfer, aber keine Fachkräfte für Notrettungen. Daher sei es ein gefährlicher Einsatz. „Mittlerweile haben viele in den vergangenen Wochen jedoch Erfahrungen sammeln können und bekommen ein Gefühl dafür, wo man hineingehen kann und wo nicht“, erzählt May. „Aber es ist riskant, wenn sie auf Dächer von halb zusammengefallenen Gebäuden gehen, um Katzen zu suchen, die sich dort möglicherweise versteckt haben.“ Bisher sei glücklicherweise noch niemand zu Schaden gekommen.
Auch nach Wochen werden noch überlebende Tiere gefunden
Anfangs wurden nach dem Erdbeben in Syrien vor allem Tiere aus den Trümmern geborgen. Sie kamen mit Knochenbrüchen, Quetschungen und Abschürfungen in die Klinik. Manchen von ihnen waren so schwer verletzt, dass sie sich kaum mehr bewegen konnten. Viele jedoch haben sich versteckt – vor allem Streuner. Solche Tiere könnten jetzt erst gerettet werden, erzählt Christoph May. „In der Türkei gibt es Häuser, die akut einsturzgefährdet sind und abgerissen werden sollen. Hier setzen sich unsere Partner dafür ein, dass sie noch Zugang erhalten, um in den Wohnungen nach Tieren zu suchen, die möglicherweise überlebt haben. Es gibt Berichte, dass die Tiere auch nach Wochen noch leben, weil sie sich durch das Toilettenwasser hydriert gehalten haben.“
In Syrien würden die Kräfte vor Ort die Tiere unter anderem mit Futter anlocken. Nur die wenigsten würden dabei mitgenommen. Vor allem Streuner versuche man, vor Ort zu versorgen, wenn sie Verletzungen haben. Nur wenn diese zu schwerwiegend sind, nehmen die Helferinnen und Helfer sie in Transportboxen mit und bringen sie in die Klinik. Diese Tiere seien nicht nur unterernährt und dehydriert, sondern meist auch hochgradig verstört.
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Unzählige Anrufe erreichen die Helfer
Bisher seien in Syrien so über 700 Tiere bei Rettungseinsätzen in der Region, die vom Erdbeben betroffen war, versorgt worden. Knapp 50 Tiere – zum großen Teil Katzen – mussten in der Klinik medizinisch versorgt werden. Wie viele davon bereits wieder mit ihren Besitzern vereint werden konnten, ist kaum bekannt. „In der Türkei müssen es aber Hunderte sein“, schätzt Christoph May die Situation für PETBOOK ein.
„Die Organisation Haytap hat Versorgungszelte direkt in der Region, wo die Tiere untergebracht und teilweise mit den Haltern zusammengeführt werden.“ Andere Organisationen würden die Tiere aus der Krisenregion evakuieren und in Tierheimen beispielsweise in Ankara oder Istanbul unterbringen und Aufrufe starten. Über diesen Weg seien schon viele Tiere vermittelt worden. „In der Türkei erreichen unseren Partner derzeit auch unzählige Anrufe, dass sich ein Haustier in diesem oder jenem Gebäude befinden könnte und man doch bitte dort suchen möge. Daher kann man von Tausenden Tieren ausgehen, die verloren gegangen sind“, sagt May. „Leider können die Organisationen nicht jedem dieser Anrufe nachkommen.“
Die größte Herausforderung ist das Ausmaß der Zerstörung
Die Kapazitäten vor Ort sind begrenzt. Für ein riesiges Gebiet stehen nur wenige Hilfspersonen zur Verfügung. Jeden Tag seien die Helfenden an verschiedenen Orten in Syrien im Einsatz, um zu sehen, wo sie noch Tiere, die durch das Erdbeben in Not geraten sind, retten können.
Die größte Herausforderung dabei sei das Maß der Zerstörung, berichtet May. „Ein zusammengestürztes Gebäude reiht sich an das nächste und man muss davon ausgehen, dass in jedem mehrere Haustiere gelebt haben. Die Helferinnen und Helfer sind immer im Bewusstsein, dass sie nur punktuell und leider nicht allen Tieren helfen können“, berichtet May.
Zudem mache sich derweil eine gewisse Hoffnungslosigkeit in der Bevölkerung breit. Seit mehr als 10 Jahren befindet sich Syrien im Bürgerkrieg. In der Region Idlib sind vier von fünf Millionen auf humanitäre Hilfe angewiesen und leben in Zeltstädten, wo die Versorgung schwierig ist. „Die Lage war ohnehin schon verzweifelt“, sagt May. „Und jetzt so eine Katastrophe. Da denkt man sich manchmal, was soll noch alles geschehen?“ Bei den vielen Verlusten, die die Menschen ertragen mussten, sind viele traumatisiert. „Da kann ein Tier, das vielleicht gerettet und zurückgebracht wird, einen kleinen Funken Hoffnung und Stabilität geben in dem ganzen Chaos“, findet May.
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Rettungsgeschichten, die Mut machen
So ein Fall, der Hoffnung gibt und May im Gedächtnis geblieben ist, sei der einer Eselin gewesen. Ihr Halter hatte durch das Erdbeben alles verloren und konnte nicht mehr für das Tier aufkommen. Daher wurde das Team der WTG in Syrien gerufen. Die Eselin war zu diesem Zeitpunkt schon völlig erschöpft. Doch mit tiermedizinischer Versorgung, Wasser und Futter kam sie Stunden später schon wieder auf die Beine und ist inzwischen wohlauf. Die Eselin befindet sich nun in der Obhut der Tierschützer, die sich weiter um sie kümmern werden. „Das ist eine der Rettungsgeschichten, die in diesen schweren Tagen Mut macht“, sagt May. So werden die Helferinnen und Helfer in Syrien auch weiterhin täglich ausfahren, um nach Tieren in den Trümmern der Regionen zu suchen, die vom Erdbeben betroffen sind.
Wer die Tierschutzorganisationen in Syrien und der Türkei dabei unterstützen möchte, sollte dieses vor allem durch Geldspenden tun, rät May. Vor allem nach Syrien seien Sachspenden momentan schwierig, da man nur schwer in die Gebiete komme.