19. September 2024, 7:07 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Können Pferde heilen? Beim heilpädagogischen Reiten sollen Kinder mit Behinderungen, oder jene, die traumatische Erfahrungen erlebt haben, wieder Vertrauen ins Leben und in andere Lebewesen fassen. Sind Pferde die besseren Therapeuten? PETBOOK hat mit der Tier-Sprachwissenschaftlerin Dr. Heike Rettig darüber gesprochen.
„Bitte halt jetzt an.“ Während ich diesen Gedanken fasse, drücke ich mein Knie ganz sanft gegen die Decke unter meinem Bein an den muskulösen Körper unter mir– schon stoppt Nico. Er versteht mich ohne Worte. Nico ist seit 1998 erfahrener Therapeut, groß, dunkelhaarig und ja: Er ist ein Pferd. Mit ihm teste ich heute heilpädagogisches Reiten.
Was ist heilpädagogisches Reiten?
Heilpädagogisches Reiten ist eine Form des therapeutischen Reitens, bei dem Menschen mit Behinderungen oder traumatischen Erfahrungen im Kontakt mit Pferden ihr Selbstbewusstsein stärken und wieder Vertrauen ins Leben gewinnen sollen. Diese besondere Form des Reitens richtet sich an hochbelastete Kinder, Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten, mit Autismus oder traumatischen Erfahrungen.
Kinder wie die entwicklungstraumatisierten Pflegekinder, die aus Kriegsgebieten kommen, die Vernachlässigung, oder Gewalt erfahren haben und die Ulrike Kirchrath, Heilpraktikerin für Psychotherapie, ehrenamtlich betreut. „Ziel des Projektes ist, dass die Kinder neue positive Beziehungserfahrungen machen können“, sagt Ulrike Kirchrath, bei der ich heute heilpädagogisches Reiten ausprobieren.
Laut der Therapeutin lernen Patienten im Kontakt mit dem Pferd, auch miteinander wieder in Kontakt zu treten, einander wahrzunehmen und sich gegenseitig zu helfen. Beim Reiten ist das Pferd ein sogenannter Beziehungsgegenüber, das den Menschen wertfrei annimmt und Selbstvertrauen gibt. Kann das funktionieren?
Was passiert beim heilpädagogischem Reiten? Das sagt die Expertin
Dr. Heike Rettig ist Sprachwissenschaftlerin und forscht im Bereich der Tierlinguistik insbesondere zu Pferd-Mensch- sowie Hund-Mensch-Interaktionen. Beim Reiten liegt, betont sie, der Fokus auf dem Fühlen und dem Körperkontakt.
„Pferd und Reiter sind – gerade durch den Körper-zu-Körper-Kontakt – keine einander völlig verschlossene Entitäten“, sagt die Wissenschaftlerin. In gewissem Sinne werden dadurch beim Reiten die Speziesgrenzen zwischen Mensch und Pferd durchlässig: „Für Reitinteraktionen sind vor allem die wechselseitigen sensorischen Körperempfindungen zentral. Auch das, was Pferd und Reiter voneinander erfühlen, kann als unmittelbares Verstehen körperlich wahrnehmbaren Ausdrucksverhaltens verstanden werden“, sagt Dr. Heike Rettig.
Beim Reiten agieren Pferd und Reiter höchst kooperativ und damit sie sich miteinander bewegen können, braucht es wechselseitige Empathie oder wortwörtlich „Einfühlungsvermögen“. All das wird beim heilpädagogischen Reiten nach und nach aufgebaut.
Ich habe heilpädagogisches Reiten getestet – und so war es
Für meine Erfahrung im heilpädagogischen Reiten werde ich von Reittherapeutin Ulrike Kirchrath zur Weide geführt, auf der ihre drei Therapiepferde grasen. Als ich ankomme, soll ich mich unauffällig an den Zaun stellen und abwarten. Ich muss nicht lange warten, bis sich eines ihrer Pferde – ein großer dunkler Halbaraber – mir zuwendet. Nico, so heißt der Hengst, kommt an den Zaun und begutachtet mich neugierig.
„Lass uns etwas ausprobieren“, sagt Kirchrath und führt mich auf die Weide. Nico macht es uns schwer, die Weide zu betreten. Er stellt sich widerwillig in den Weg, so als wollte er verhindern, dass wir Kontakt zu den anderen Pferden aufnehmen. Als wir vor den anderen Tieren ankommen, bedeutet er ihnen, mich nicht zu beachten. Er zieht Kreise um mich und stellt sich mir in den Weg.
„Schau, er will, dass du ihn mitnimmst“, erklärt Ulrike Kirchrath. Ich fühle mich geschmeichelt. Wir nehmen Nico mit in den Stall, wo wir ihn zurechtmachen. Nico zeigt sich sehr kooperativ, während ich ihn striegele und neigt die ganze Zeit über seinen Kopf. Das mag ein Zufall sein; tatsächlich erscheint er mir so aber kleiner und weniger Furcht einflößend als andere Pferde in seiner Größe. Wenn es nach Ulrike Kirchrath geht, ist das kein Zufall. „Therapiepferde erspüren die Bedürfnisse des Reiters“, sagt die Therapeutin.
»Es ist ein gutes Gefühl, so verstanden zu werden
Danach geht es in die Reithalle. Ich reite ohne Sattel und ohne Trense, weshalb Frau Kirchrath Nico zu Beginn an einem Strick am Halfter festhält. Ich soll mich sicher fühlen.
Wir gehen zwei Runden zusammen, danach lässt Reittherapeutin den Strick los und Nico und ich sind auf uns allein gestellt. Wir reiten langsam im Kreis durch die Halle. „Such dir einen Punkt, an dem er anhalten soll“, sagt Kirchrath. Ich schaue in die Ecke gegenüber von mir und reite durch die Halle. Ziemlich genau an dem Punkt, den ich mir ausgesucht habe, bleibt das Pferd unter mir stehen. Ein Zufall? Ich soll noch zwei weitere Male durch die Halle reiten und Nico zum Anhalten bringen. Beide Male hält der Hengst direkt an. Gut möglich, dass ich meinen Körper an den jeweiligen Stellen anders bewegt habe. Trotzdem ist es ein gutes Gefühl, so verstanden zu werden.
Zum Abschluss machen wir noch eine kleine Kür: Frau Kirchrath baut eine Art Podest auf, auf den Nico mit mir hinaufsteigen soll. Ich treibe ihn zum Podest und er stellt die Vorderhufe auf die Stufe. Wir bleiben kurz stehen, dann soll ich ihn hinunterführen. Ich bedeute ihm mit einem Anspannen meines Beins, auf welcher Seite er absteigen soll. Auch das klappt problemlos und hinterlässt bei mir das gute Gefühl, von dem Tier verstanden und ja, „getragen“ zu werden.
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Die Grenze der Spezies überschreiten
Rein von außen betrachtet, ist beim heilpädagogischen Reiten nicht viel passiert: Ich bin im Schritt auf einem überaus freundlichen und sensiblen Pferd durch eine Reithalle geritten. Von innen, war dennoch eine Menge los. Zeitweise hatte ich das Gefühl, mit Nico eine richtige Verbindung einzugehen. Ich habe mich auch ohne Worte verstanden gefühlt und die Erfahrung gemacht, dass jemand mir etwas Gutes will und mit mir auf friedliche Weise an meinen Zielen arbeitet.
Ich habe zum Glück ein verhältnismäßig unkompliziertes Leben und musste bisher keine Erfahrungen machen, die meinen Glauben an die Menschheit unwiderruflich erschüttert hätten. Wäre dies aber der Fall, bin ich mir sicher, dass heilpädagogisches Reiten einen wichtigen Beitrag leisten würde, wieder vertrauen in mich und vor allem in andere Lebewesen zu fassen.
Bewegung wirkt positiv auf das Empfinden und löst Emotionen
Umgekehrt denke ich, dass es auch möglich ist, durch das Reiten Empathie zu erlernen. Studien belegen dies: hier konnte gezeigt werden, dass beim heilpädagogischen Reiten Pferde für Patienten, die an Traumafolgestörungen, Angsterkrankungen, Anorexie, Zwangserkrankungen oder Depressionen litten, den Therapeuten ersetzen können. Die Patienten empfanden es hier als besonders befreiend, sich dem Therapeuten nicht verbal erklären zu müssen.1
Auch die Bewegung selbst wirkt positiv auf das Empfinden und löst Emotionen. Neben diesen Wirkungen auf die Psyche, gibt es auch Studien, die positive Wirkungen des Heilpädagogischen Reitens bei Multipler Sklerose nachweisen. Hier konnte das Reiten das Gleichgewicht verbessern, Müdigkeit reduzieren und die Lebensqualität verbessern.2
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Richtig Entscheiden Was man unbedingt vor dem Pferdekauf beachten sollte
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Fazit
Heilpädagogisches Reiten ist eine besondere Form des Reitens, die positiv auf die Psyche wirkt. Pferde in die Heilung von psychischen Erkrankungen einzubeziehen, hat den Vorteil, dass sich Patienten nicht erklären müssen und so verstanden werden. Die Bewegung, das Aufeinander-Einlassen beim Reiten, fördert Vertrauen und ermutigt die Patienten dazu, wieder Vertrauen ins Leben zu fassen.