4. Februar 2025, 7:05 Uhr | Lesezeit: 17 Minuten
Wenn es in von Menschen besiedelten Gebieten die Erde gebebt hat, verbreiten sich nicht nur Nachrichten über Opfer und Schäden. Immer wieder ist auch zu hören, dass sich Tiere vor einem Beben merkwürdig verhalten hätten. Dabei spielt es keine Rolle, in welchem Teil der Welt die Erschütterungen zu spüren waren – die Berichte ähneln sich. Vögel seien verstummt, Hunde hätten gejault und Katzen sich verkrochen. Doch spüren Tiere wirklich schon weit im Voraus, dass ein Erdbeben droht? Oder haben Menschen nach einer Naturkatastrophe Verhaltensweisen in ihre Tiere hineininterpretiert? PETBOOK hat mit einem Verhaltensbiologen gesprochen, der zu diesem Thema forscht.
Nachdem im Februar 2023 ein Erdbeben ganze Landstriche im Süden der Türkei und dem Norden Syriens verwüstet hatte, berichteten Überlebende nicht nur über Tote und immense Schäden an Häusern und Infrastruktur. Immer wieder wurden auch Berichte geteilt, dass Tiere schon weit vor der Naturkatastrophe ungewöhnliches Verhalten gezeigt hätten. So seien etwa Ziegen unruhig geworden und Vögel aufgeregt umhergeflattert. Auch nach der durch ein Beben im Indischen Ozean ausgelösten Tsunami-Katastrophe 2004 in Südostasien wurden Berichte laut, nach denen Tiere vor der Flutwelle rechtzeitig geflohen seien. In einigen von der Flut zerstörten Regionen, fand man unzählige menschliche Opfer, aber kaum Tiere.
Vor allem die kleine Insel Simeulue im Indischen Ozean wird als Beispiel für auffälliges Tierverhalten vor der Naturkatastrophe angeführt. Berichten zufolge sollen Stunden vor dem Eintreffen der Flut die Tiere der Insel in höher gelegene Regionen geflohen sein. Die von dem ungewöhnlichen Verhalten alarmierten Bewohner folgten ihnen. Kurz darauf brach der Tsunami über ihre Heimat herein, der im ostasiatischen Raum hunderttausende Opfer forderte. Auf Simeulue aber überlebten nahezu alle 80.000 Bewohner. Für viele Menschen, die solche Berichte lesen, ist daher klar: Tiere müssen über eine Art „sechsten Sinn“ verfügen und spüren Erdbeben und ähnliche Naturkatastrophen bereits, bevor der Mensch etwas wahrnimmt. Und wer sie erkennt, kann rechtzeitig Vorkehrungen treffen. Oder sind all diese angeblichen Signale, die die Tiere aussenden, bloße menschliche Einbildung? Selbst Wissenschaftler streiten darüber.
Berichte über merkwürdiges Tierverhalten schon in der Antike
Fest steht: Ein neuzeitliches Phänomen sind Berichte über seltsames Verhalten von Tieren vor Erdbeben und anderen Naturkatastrophen nicht. Schon aus dem antiken Griechenland und dem alten Rom gibt es Erzählungen, nach denen sich Tiere vor Naturkatastrophen ungewöhnlich verhalten haben sollen. 373 vor Christus etwa berichtete der römischen Historiker Aelian über ein gewaltiges Erdbeben, dass die Stadt Helike zerstört hatte. Er beschrieb auch das merkwürdige Verhalten einiger Tiere kurz zuvor: Fünf Tage vor dem Beben seien zahlreiche Ratten, Wiesel, Schlangen und Insekten in einem langen Marsch aus der Stadt geflohen. Ein gruseliges Schauspiel, wie der Chronist anmerkte.
Auch aus anderen Epochen gibt es ähnliche Berichte. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts sollen Haustiere auf Sizilien durch ungewöhnliches Verhalten frühzeitig auf ein schweres Erdbeben hingewiesen haben. 1887 versuchten zwei italienische Forscher nach einem Beben in der Region Ligurien, mithilfe eines Fragebogens merkwürdigem Tierverhalten auf die Spur zu kommen. Damals teilten sie mit: „In mehr als 130 Orten, wie uns bekannt ist, wurden die Zeugen vom Zustand der Angst oder der Angst der Tiere genommen. Die Tiere ließen ungewöhnliche Schreie aus, zeigten Unruhe: das Flattern von Vögeln, die versuchten, ins Freie zu flüchten usw., in der Regel, ein paar Minuten vor dem Erdbeben“.
Japanische Fischer, so geht aus verschiedenen Quellen hervor, hätten vor einem großen Erdbeben in der Stadt Edo im Jahr 1855 seltsame Verhaltensweisen an Riesen-Welsen beobachtet. Aus dem Jahr 1923 wird ebenfalls berichtet, dass Welse plötzlich an die Wasseroberfläche kamen – in solchen Mengen, dass man sie mit Eimern abschöpfen konnte. Zwei Tage später erschütterte ein heftiges Erdbeben unter anderem die Region Tokio. An den Folgen starben fast 150.000 Menschen.
Verhalten von Schlangen deutet auf Erdbeben hin
Im Februar 1975 hatte laut Medienberichten unter anderem das merkwürdige Verhalten von Schlangen dazu geführt, dass man die chinesische Stadt Haicheng evakuierte. Dies geschah knapp zehn Stunden, bevor ein Erdbeben der Stärke 7,3 die Region zerstörte. Zu jener Zeit hatten die Behörden bereits leichte Erdstöße und eine Veränderung des Grundwasserspiegels in der Region wahrgenommen. Daraufhin wurden die Bewohner zu erhöhter Wachsamkeit aufgerufen und aufgefordert, ungewöhnliche Beobachtungen zu melden. Tatsächlich sollen sie daraufhin mehrfach ungewöhnliches Tierverhalten angezeigt haben.
So seien Schlangen plötzlich aus ihrem Winterschlaf erwacht, hätten ihre Verstecke verlassen und seien ins Freien gekrochen, wo sie erfroren. Und auch dort seien Fische in Massen an die Oberflächen ihrer Gewässer geschwommen. Das Zusammenspiel aus Vorbeben und Tierbeobachtungen veranlasste die Behörden, die Menschen aus der Region in Sicherheit zu bringen. Kurz darauf bebte die Erde. Zwar starben trotz der Maßnahmen noch mehr als 1000 Bewohner. Dennoch wurde die Aktion als Erfolg gewertet – in der dicht besiedelten Region hätte es sonst mehr als 150.000 Opfer geben können, wie es in Medienberichten hieß.1
Vor allem Schlangen scheinen laut zahlreichen Berichten als Erdbeben-Propheten geeignet zu sein. 2005 beobachteten Schlangenzüchter aus der südchinesischen Region um die Stadt Nanning, dass die Tiere versuchten, aus ihren Gehegen auszubrechen. Dazu schlugen sie angeblich heftig und unablässig mit ihren Köpfen gegen die Betonwände – so heftig, dass sie starben. Vier Tage später ereignete sich rund 100 Kilometer entfernt ein heftiges Erdbeben der Stärke 5,2. Wissenschaftler vom staatlichen Erdbebenbüro in Nanning gingen daher davon aus, dass besonders Schlangen Vorzeichen von Erdbeben bereits frühzeitig spüren können. Bekannt ist: Mithilfe ihres Innenohrs nehmen die Tiere tatsächlich schon geringste Erschütterungen wahr. Das hilft ihnen, zu erkennen, wenn sich potenzielle Feinde oder Nahrungstiere nähern. Dazu, ob sie so auch frühzeitig drohende Erdbeben erspüren können, fehlen allerdings noch Studien und wissenschaftlich erhobene Daten.2
Schlangen mit Minisendern als Erdbeben-Forscher
Die sollen nun, rund 20 Jahre später, Schlangen aus Italien liefern. In den Abruzzen, genauer der Stadt Cocullo in der Region L`Aquila, kriechen inzwischen zahlreiche mit Minisendern ausgestattete Schlangen durch die Wildnis. Die Tiere kommen natürlich in dieser stark erdbebengefährdeten Region vor und sind nicht gezüchtet. Martin Wikelski vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Radolfzell/Konstanz steckt hinter den Untersuchungen, die langfristig Daten darüber liefern sollen, ob – und wenn ja, wann und wie – Schlangen auf Erdbeben reagieren. Denn in der aktuellen Wissenschaft diskutiert man teils heftig darüber, ob Tiere tatsächlich Vorboten von Erdbeben spüren können oder nicht.
Wikelski und der Exzellenzcluster Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour der Universität Konstanz widmeten sich daher schon vor Jahren intensiv der Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen Tierverhalten und Naturkatastrophen gibt. Denn: „Das Problem ist, dass hinterher immer jemand glaubt, vorher etwas bemerkt zu haben“, so Wikelski im Gespräch mit PETBOOK. „Ob das aber tatsächlich so ist, können nur harte, wissenschaftliche Daten zeigen.“ Diese sammelt er inzwischen weltweit mithilfe von Analysesoftware, Trackern und Satellitenunterstützung und einigen tierischen Mitarbeitern.3
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Daten müssen über längere Zeiträume erhoben werden
Wichtig dabei: Es müssen Daten erhoben werden, die aus Perioden vor, während und nach einem Beben stammen, so Wikelski im PETBOOK-Gespräch. Diese sollen ihm unter anderem die Schlangen aus Italien liefern, deren Bewegungsdaten man in ihrer natürlichen Umgebung ununterbrochen auchzeichnet. So lässt sich später im Abgleich mit Erdbebendaten analysieren, ob sie eventuell vor einem Beben unüblich oder anders reagiert haben als sonst. „Nur dann liegen den Beobachtungen auch Daten zugrunde und nicht nur Erzählungen.“ Schon 2009 rückten in den Abruzzen Tiere als Erdbeben-Propheten in den Fokus von Medien und Anwohnern. Im April hatte ein Erdbebenforscher ein schweres Beben für die Region vorhergesagt. Dabei stützte er sich unter anderem auf das ungewöhnliche Verhalten von Erdkröten.
Der Forscher hatte zudem vermehrt das Edelgas Radon nachweisen können, das vor Erdbeben häufiger aus der Erde austritt. Schon vor diesen Messungen hatten Wissenschaftler, die in der Region zufällig das Fortpflanzungsverhalten von Erdkröten untersuchten, ein für die Tiere merkwürdiges Verhalten beobachtet. Demnach hatten sich die Kröten plötzlich von ihren Laichplätzen zurückzogen – mitten in der Paarungssaison, was unüblich für die Amphibien ist. Wenige Tage später bebte die Erde. Mit einer Stärke von 6,3 auf der Richterskala forderte das Beben in der nicht weit entfernten Stadt L`Aquila mehr als 300 Menschenleben und richtete immense Schäden an Gebäuden und Infrastruktur an.
Die Forscher, die zuvor das merkwürdige Verhalten der Kröten dokumentiert hatten, mutmaßten daraufhin, dass die Tiere durch Schwankungen im Erdmagnetfeld vor dem Beben gewarnt worden waren. Daher hätten sie das Weite gesucht. Da man die Kröten sowohl vor, als auch nach dem Beben genau beobachtet und deren Verhalten sowie Umwelt- und Wetterbedingungen dokumentiert hatte, schlossen die an den Untersuchungen beteiligten Wissenschaftler aus, dass bloße Wetterschwankungen zu dem Verhalten geführt hatten. Dennoch: Bewiesen war damit nichts. Und die Forschung widmete sich dem Thema zunächst auch nicht weiter.4
Untersuchungen an Haus- und Nutztieren in Italien
Erste Hinweise darauf, dass Tiere womöglich doch frühzeitig drohende Erdbeben wahrnehmen, sammelten Martin Wikelski vom Max-Planck-Institut für Verhaltensforschung und sein Team dagegen 2016 und 2017 mithilfe von Kühen, Hunden und Schafen. Dazu ging es nach Italien, in den Norden des Landes, wo es immer wieder zu Erdbeben kommt. Dort berichteten Bauern wiederholt über merkwürdiges Verhalten ihrer Tiere vor den Ereignissen. Allerdings: „Anekdotenhafte Erzählungen halten einer wissenschaftlichen Überprüfung häufig nicht stand, denn oft ist die Definition von auffälligem Verhalten zu unklar, der Beobachtungszeitraum zu kurz.
Zudem könnten auch andere Einflussfaktoren das Verhalten der Tiere erklären“, heißt es in einer Publikation der Forschergruppe. Daher statteten die Wissenschaftler Tiere auf einem Bauernhof mit Sensoren aus, die deren Bewegungen kontinuierlich über mehrere Monate hinweg aufzeichneten. „Am 28. Oktober 2016 haben wir insgesamt sechs Kühe, fünf Schafe, ein Kaninchen, vier Hühner, zwei Puten und zwei Hunde markiert, die später Erdbeben innerhalb von drei bis 30 Kilometern erlebten.“ Während dieser Zeit wurden in der Region rund 18.000 Erdstöße gemeldet. Darunter neben vielen kaum spürbaren auch zwölf Beben mit einer Stärke von vier oder mehr auf der Richterskala.
Die Forschergruppe markierte unabhängig von den Beben objektiv gemessene, statistisch auffällige Verhaltensänderungen der Tiere, die sie während des Untersuchungszeitraums zeigten. „So stellen wir sicher, dass wir nicht nur im Nachhinein Zusammenhänge feststellen, sondern wirklich ein Modell haben, das auch zukünftig für Vorhersagen verwendet werden kann“, so Wikelski.5
Reaktion aller Tiere gemeinsam ist entscheidend
Später glichen sie diese Verhaltensänderungen mit Daten über Erdbeben ab, die in der Region vorkamen. Das Ergebnis: Kühe, Hunde und Schafe (die anderen Tiere „wurden während der Feiertage konsumiert“ und standen daher nicht den gesamten Untersuchungszeitraum zur Verfügung, wie die Studie verriet) zeigten bis zu 20 Stunden, bevor in der Region Erdbeben aufgezeichnet wurden, auffällige Verhaltensweisen. „Je näher sich die Tiere am Epizentrum der bevorstehenden Erschütterung befanden, desto früher änderten sie ihr Verhalten.
Das ist genau das, was man erwarten würde, wenn physikalische Veränderungen vermehrt am Epizentrum des drohenden Erdbebens auftreten und mit zunehmender Entfernung schwächer werden“, so Wikelski in seiner Publikation aus dem Jahr 2020. Diesen Effekt könnte man allerdings nur so deutlich festzustellen, wenn man die Reaktionen aller Tiere gemeinsam betrachtete. Zudem reagierten Tiere empfindlicher, wenn sie in geschlossenen Gebäuden wie etwa Ställen untergebracht waren. „Im Kollektiv scheinen die Tiere also Fähigkeiten zu zeigen, die auf individueller Ebene nicht so leicht zu erkennen sind.“6
Daten aus Trackern und dem All sollen Beobachtungen stützen
Wie es den Tieren möglicherweise gelingt, Erdbeben frühzeitig zu erfühlen, ist unklar. Eine Theorie besagt, dass sie mithilfe ihres Fells Ionisierungen der Luft wahrnehmen, die durch den großen Gesteinsdruck in Erdbebenzonen auftreten. Oder sie riechen Gase, die vor einem Beben aus Quarzkristallen freigesetzt werden, hieß es in der Studie weiter. Inzwischen hat das Team um Martin Wikelski seine Untersuchungen fortgesetzt, um weitere Daten zu gewinnen. So überwache man seit 2019 weitere Nutztiere in der Region mit Sendern. Diese senden alle drei Minuten Daten an einen Zentralcomputer. Dieser löst ein Warnsignal aus, wenn er eine deutlich erhöhte Aktivität der Tiere über mindestens 45 Minuten registriert. Seitdem haben die Wissenschaftler ein solches Signal ein Mal empfangen: „Und tatsächlich, drei Stunden später erschütterte ein kleines Beben die Region, dessen Epizentrum direkt unter dem Stall der Tiere lag.“
Bevor man das Verhalten von Tieren jedoch tatsächlich zur Erdbebenvorhersage nutzen kann, müsse man eine eine größere Anzahl an Tieren über längere Zeiträume in verschiedenen Erdbebenzonen der Welt beobachten, so Wikelski in seiner Publikation aus 2020. Dem sind der Biologe und sein Team inzwischen deutlich näher gekommen. Bis zum Ausbruch des Ukraine-Kriegs hatten die Wissenschaftler unter anderem Satellitendaten von der internationalen Raumstation ISS genutzt, um Tierbewegungen aus dem Weltall auswerten zu können. Da der Datenempfang mit Ausbruch des Kriegs gestoppt wurde, sollen nun im Herbst 2025 neue Satelliten, die gemeinsam mit einem deutschen Start-Up entwickelt wurden, diese Arbeit übernehmen.
Tracking-Halsbänder für Hunde und Katzen
Inzwischen sind auch Hunde und Katzen in den Dienst Wikelskis getreten. In Zusammenarbeit mit einem österreichischen Unternehmen, das Tracking-Halsbänder für Tiere vertreibt, haben der Verhaltensbiologe und sein Team rund 44.000 dieser weltweit eingesetzten Halsbänder mit einer eigens entwickelten Software ausgestattet. Diese misst – vollständig anonymisiert – ebenfalls Bewegungsabläufe der Tiere und sendet die Daten regelmäßig an einen Computer. Kommt es zu Auffälligkeiten, wird verglichen, ob es anschließend in der Region, aus der die Daten stammen, zu Erdbeben oder ähnlichen Naturkatastrophen gekommen ist. Zudem wird abgeglichen, wie andere, ebenfalls mit den Sendern ausgestattete Tiere, in demselben Gebiet zur gleichen Zeit reagiert haben.
Studien schwierig durchzuführen
Einige Forscher sind dennoch skeptisch, ob Tiere Erdbeben tatsächlich frühzeitig wahrnehmen können. Ein Argument, das man immer wieder anführt: Angeblich auffälliges Verhalten von Tieren könne nicht wissenschaftlich dargelegt werden und habe andere Ursachen. Eine kalifornische Studie, die 1988 veröffentlicht wurde, untersuchte etwa, ob Hunde eher weglaufen, wenn ein Erdbeben droht. Dazu wurden über Jahre hinweg Vermisstenmeldungen von Hunden mit den im gleichen Zeitraum 224 registrierten Beben abgeglichen. Das Ergebnis: Die Autoren der Studie konnten keinen Zusammenhang zwischen weggelaufenen Hunden und Erdbeben feststellen. Ob man allerdings das Abgleichen von Zeitungsberichten als wissenschaftlich fundiert bezeichnen kann, ist fraglich. „Mir ist bislang keine seriöse Studie bekannt, die sich damit beschäftigt hat, ob Hunde Erdbeben frühzeitig spüren können“, sagt Juliane Bräuer, Geoanthropologin und Leiterin des Bereichs Hundestudien am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena.
Zwar sei bekannt, dass Hunde – wie zahlreiche andere Tiere auch – Magnetfelder spüren können und sich danach ausrichten. Ob sie aber auch Erdbeben frühzeitig wahrnehmen können, sei bislang unbekannt. „Das heißt aber nicht, dass es völlig abwegig ist, es ist einfach nur noch nicht erforscht worden.“ Denn dazu eine Studie nach wissenschaftlichen Standards durchzuführen, sei kompliziert und sehr aufwendig. „Dazu müsste man erst einmal 20 oder besser 40 Hunde in ein Erdbebengebiet bringen und 40 in ein nicht gefährdetes Gebiet und beide Gruppen unter gleichen Voraussetzungen und Bedingungen halten, um Einflüsse von außen auf das Verhalten der Tiere zu vermeiden“, erläutert Bräuer auf PETBOOK-Nachfrage.
Dann müsse die Erde beben und daraufhin genau abgeglichen werden, wie sich die Tiere vor, während und nach dem Beben verhielten – und ob es Unterschiede zwischen den Hunden in der bebenden und der nicht-bebenden Region gibt. Denn außergewöhnliches Verhalten eines Hundes vor einem Beben könne auch andere Ursachen haben, die nichts mit den Erdstößen zu haben, sagt auch Bräuer. Das müsse ausgeschlossen werden.
Reaktion auf Vorbeben
Ähnliche Argumente führt eine Gruppe von Wissenschaftlern des Helmholtz-Zentrums für Geoforschung in Potsdam (GFZ) an. Das GFZ befasst sich selbst mit Erdbebenforschung. „Die Berichte über auffälliges Verhalten sind zahlreich, doch es könnte auch andere Ursachen haben“, teilte es als Reaktion auf die Untersuchungen Wikelskis aus 2020 mit. „Wir haben deshalb 180 entsprechende Studien genauer angeschaut und untersucht, ob es einen statistischen Zusammenhang zwischen der seismischen Aktivität und dem Verhalten von Tieren gibt.“
Das Team des GFZ analysierte dazu eigenen Angaben zufolge mehr als 700 Beobachtungen auffälligen Verhaltens von Tieren, die man bei 160 Erdbeben machte. 130 Tierarten waren bei diesen Beobachtungen benannt worden, darunter Ziegen, Schlangen und Fische aus Neuseeland, Japan, Italien und anderen Ländern. Dabei untersuchten die Potsdamer Wissenschaftler unter anderem die Entfernung der Tiere zu einem Beben, die Qualität der Beobachtungen über das Tier-Verhalten und den Effekt von Vorbeben.
Zur Statistischen Auswertung erstellten sie spezielle Diagramme. Für diese zogen sie Daten von Erdbeben mit einer Stärke von mehr als 5,6 und mehr heran, die man zwischen 2000 und 2012 gemessen hatte. Dabei stellte sich heraus, dass es bei 16 Prozent der Erdbeben innerhalb von 60 Tagen Vorbeben gab. „Diese Verteilung in Raum und Zeit ist ähnlich der Verteilung von Auffälligkeiten im Verhalten von Tieren“, teilt das GFZ dazu mit. Das heißt: Aus den Daten Wikelsksi seien falsche Schlussfolgerungen getroffen worden. Zumindest „in einem Teil der Fälle, in denen Tiere als Erdbeben-Warner gehandelt werden“, könne deren auffälliges Verhalten laut GFZ eine Reaktion auf die für sie spürbaren Vorbeben gewesen sein.
Erklärungsansatz ist nicht neu
So ist etwa bekannt, dass Elefanten über ihre Fußsohlen Schallwellen im niederfrequenten Bereich wahrnehmen können, wie andere Forschungen ergeben haben. Daher können sie womöglich schon kaum spürbare Erdbewegungen vor einem Beben wahrnehmen und sich in Sicherheit bringen. Zwar sei es eine „interessante Forschungsfrage“, ob Tiere als Frühwarnsystem für Erdbeben genutzt werden können, so die Potsdamer Wissenschaftler weiter. Allerdings: „Eine treffsichere Vorhersage zu Ort, Magnitude und Zeitpunkt eines Bebens erscheint nach allem, was wir wissen, nicht möglich zu sein. Und auch die zuverlässige Frühwarnung anhand von Vorbeben oder Gasaustritten aus dem Untergrund ist mit sehr vielen Unsicherheiten behaftet und bislang auch mit den modernsten Sensoren nicht gelungen.“

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Je mehr Daten, desto mehr Erkenntnisse
Allerdings sind diese Aussagen des GFZ inzwischen knapp sieben Jahre alt. Auf aktuelle Petbook-Nachfrage wiederholte das Forschungszentrum jedoch die bereits vor Jahren getätigte Aussage: „Unter Anwendung modernster statistischer Methoden zeigen wir, dass die vorgeschlagenen antizipatorischen Muster nicht von zufälligen Mustern unterschieden werden können und die beobachteten Anomalien der Tieraktivität folglich keine Vorhersagekraft haben.“ Das GFZ zeige, dass auch das Ergebnis der Studie von Martin Wikelski „auf einer unvollständigen Analyse und irreführenden Interpretationen beruht“. Mehr teilte das GFZ nicht mit.
Biologe Wikelski und sein Team reagierten erstmals schon 2020 auf die Kritik. Ziel ihrer Studie sei gewesen, herauszufinden, ob es überhaupt Anzeichen gibt, dass Tiere Erdbeben schon früh spüren können. Und das sei durch die Studie bestätigt worden. Weitere Studien und zusätzliche Daten, so antwortete Wikelski damals, seien notwendig.
Inzwischen arbeiten er und sein Team mit höchst aufgelösten Daten, die über längere Zeiträume von vielen Tieren stammen und verglichen werden. „Das ist keine Magie, das ist harte Mathematik und Physik“, sagt der Verhaltensbiologe im PETBOOK-Gespräch. Die Forschung an Tieren sei auf dem richtigen Weg. „ Aber es gibt noch wahnsinnig viel zu tun, das ist erst der Anfang.“ Das heißt: Je länger man die Daten sammelt, desto eher lässt sich herausfinden, ob Tiere Erdbeben tatsächlich schon früh wahrnehmen können oder nicht. Sicher ist momentan nur: Selbst moderne Messgeräte können derzeit Erdbeben nicht immer rechtzeitig und zuverlässig voraussagen.