8. Oktober 2024, 13:16 Uhr | Lesezeit: 10 Minuten
Im Bärenwald bekommen Bären nach der Rettung aus Zirkussen, Zoos oder der Privathaltung eine Chance auf ein artgerechteres Leben. In naturnahen Gehegen können sie ihren natürlichen Instinkten nachgehen: umherstreifen, sich in Höhlen zum Winterschlaf verziehen oder in Teichen baden. PETBOOK-Autorin Mareike Schmidt hat einen Tag im Bärenwald verbracht und berichtet von ihren Eindrücken.
Es ist Dienstag und ich steige bei strömendem Regen in Stuer, einer Gemeinde im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte, aus dem Auto. Direkt weht mir eine kühle Brise entgegen. Sie riecht nach frischem Regen und ist durchzogen von einem erdig-feuchten Waldgeruch. Vor mir befindet sich der Eingang zum Bärenwald Müritz, einem Projekt der Tierschutzorganisation Vier Pfoten, und mit 16 Hektar Fläche Westeuropas größtes Bärenschutzzentrum. In ihm sind aktuell zehn Bären untergebracht, die aus Zirkussen, Zoos und Privathaltungen gerettet worden sind. Alle ehemaligen Bärenhalter verpflichten sich mit der Abgabe ihrer Bären keine weiteren anzuschaffen oder zu halten. Im Bärenwald können die geretteten Tiere ihr Leben anschließend in den naturnahen Gehegen verbringen und sich von den Qualen, denen sie Jahre ausgesetzt waren, erholen.
Auf den Spuren der ehemaligen Zirkusbären
Im Bärenwald begrüßt mich Petra Konermann, die Pressesprecherin des Bärenwaldes Müritz mit der ich einen Rundgang machen werde. Ich hätte mir das richtige Wetter ausgesucht, kommentiert Sie, während es in Strömen regnet. Die Chancen würden gut stehen, dass wir heute viele Bären sehen, denn sie liebten das Wasser.
Gleich zu Beginn lädt Sie mich zu einem Experiment ein und überreicht mir eine Maske, die meine Augen verdecken soll. In einem abgedunkelten Schuppen, der auf dem Gelände steht, soll nachempfunden werden, wie sich ein Zirkusbär in einer Manege fühlen muss. Mit der Maske über meinen Augen und nur auf meinen Tastsinn und Gehör reduziert, betrete ich die Installation. Orientieren kann ich mich nur durch einen an der Wand befestigten Handlauf. Das Verdecken meiner Augen soll meine anderen Sinne schärfen. Im Schuppen werde ich mit Stimmen konfrontiert. Sie rufen, dass der Bär sich bewegen soll und die Stimmen schaukeln sich immer weiter hoch. Immer wieder blitzt Licht auf. Die Atmosphäre ist bedrückend, ich fühle mich schnell eingeengt und auch überfordert von den Rufen.
Die wenigen Minuten, die ich dort drin verbringe, zeigen bereits eindrücklich, wie sich ein Bär in einer Manege oder einem Käfig fühlen muss und was Menschen diesen Tieren antun. Ausgesetzt in einer für sie unnatürlichen Umgebung, konfrontiert mit Menschen, die sie anschreien, Blitzlichtgewitter ausgesetzt und völlig reizüberflutet. Als ich wieder heraustrete, ist meine Stimmung gedrückt und die Bestürzung groß.
Schlechte Haltungsbedingungen hinterließen körperliche Spuren
Auch ein alter offener Gitterwagen, der auf dem Gelände steht, verdeutlicht, unter welchen schlimmen und widrigen Bedingungen die ehemaligen Zirkusbären ihr Leben verbracht haben: auf nur wenigen Quadratmetern Betonboden, eingesperrt hinter Gitterstäben – oft auch zu zweit. Der Zirkuswagen, der lediglich ein kleiner Käfig ist, ist mit Stahlgitterstäben versehen, an denen die Bären oft knabbern und sogar herumbeißen, wie mir Petra Konermann erzählt. Ein Grund, weshalb Bären aus diesen Haltungsbedingungen oft sehr schlechte Zähne haben. Auch Bärengebisse, in denen kaum noch Zähne vorhanden sind, habe sie schon gesehen. Neben dem Käfig steht ein Wohnwagen, der nachstellt, wie Zirkusleute untergebracht werden, und verdeutlicht das enorme Ungleichgewicht. Der Wagen ist genauso groß wie der Bärenkäfig.
Viele Bären, die aktuell im Bärenwald leben, verbrachten ihr Leben zuvor auf wenigen Quadratmetern und Betonboden. Diese Haltungsbedingungen haben Spuren hinterlassen. Ihre Pfoten sind vergleichsweise weich, dabei sollten sie eigentlich robust und rau vom Wühlen im Waldboden sein. In der Natur benutzen Bären sie, um in Böden zu graben und sich Höhlen und Unterschlüpfe zu bauen. Die Pfoten der in Gefangenschaft gehaltenen Bären sind diese Art der Nutzung nicht gewohnt, da die Bären dafür keine Möglichkeit hatten.
Bärin Sylvia kann sich nur noch humpelnd bewegen
Im ersten Gehege begegne ich den Bärengeschwistern Pavle und Sylvia, die man gemeinsam in einem kleinen Käfig auf einem Grundstück eines serbischen Zirkus hielt. Sylvia fehlt ein Teil ihrer Vorderpfote. Die Pfleger vermuten, dass sie an den Gitterstäben hängen blieb. Durch fehlende Versorgung der Verletzung verkümmerte die Pfote und verkrümmte sich, weshalb sich die Bärin nur noch humpelnd fortbewegen kann.
Die Bärengeschwister sind unzertrennlich und teilen während der Winterruhe sogar eine Höhle. Was mich sehr überrascht, denn in der freien Natur sind Bären Einzelgänger. Doch wenn man sie einmal gemeinsam gehalten hat, sind sie oft nur schwer zu trennen, weshalb sich einige Bären im Bärenwald ein Gehege teilen.
Eine Bärin war Publikumsmagnet, nun sieht sie niemand mehr
Doch die schlimmen Haltungsbedingungen in der Vergangenheit der Bären hinterließen nicht nur körperliche Spuren – viele Bären sind auch psychisch angeschlagen und verhaltensauffällig.
So wie Luna, eine Bärin, die ich bei meinem Rundgang nicht gesehen habe. Sie ist die jüngste Bärenwald-Bewohnerin und stammt aus einem Vergnügungspark in Albanien, wo sie in einem kleinen Käfig lebte.
Die Bärin ist aktuell in einem abgelegeneren Gehege untergebracht, weil sie auf größere Menschengruppen nervös reagierte und dann in ein stereotypisches Verhalten zurückfiel: Sie lief vermehrt im Kreis umher, leckte an ihrer Pfote und gab schnurrende Laute von sich – als ob sie nach ihrer Mutter rufen würde.
Im Bärenwald finden die verstörten Bären langsam zu einem natürlichen Verhalten zurück
Während wir weiterlaufen, erklärt Petra Konermann, dass die meisten der hier lebenden Bären die Natur an sich gar nicht kennen. Auch die wichtige Winterruhe haben die Bären, bevor sie in den Bärenwald kamen, nie gehalten. Ihre früheren Behausungen ließen es nicht zu, dass sie sich eine Höhle graben konnten, um dort die Wintermonate zu verbringen.
Als die Bären dann in den Bärenwald einzogen, mussten sie erst lernen, wie man sich eine Höhle buddelt. Und einfach so richtig Bär ist. Glücklich erzählt Frau Konermann, dass bereits einige angefangen haben, in der Erde zu buddeln, und einige Aushebungen, die wir sehen, deuten auf die ersten Versuche hin, sich für die kommende Winterruhe eine gemütliche Höhle zu bauen.
Letztes Jahr hätten zum ersten Mal wirklich alle Bären Winterruhe gehalten – ein gutes Zeichen, dass die verhaltensgestörten Bären wieder zu einem natürlicheren Verhalten zurückkehren.
Jeder Bär hat individuelle Vorlieben und Bedürfnisse
Im nächsten Gehege sehen wir Bären, die gerade mit ihrer Nahrungsaufnahme beschäftigt sind. Ein Bär pikst gekonnt einen Apfel auf seine Krallen auf und verspeist ihn genüsslich. Dabei sieht es fast so aus, als würde er seine riesigen Pranken mit den langen Krallen wie eine Gabel nutzen.
Petra Konermann erzählt mir, dass Bären in der Natur etwa neun Stunden täglich umherstreifen, um nach Nahrung zu suchen. Um dieses Szenario möglichst naturgetreu nachzustellen, gibt es im Bärenwald keine festen Fütterungszeiten. Stattdessen wird das Obst und Gemüse etwa über den Zaun verteilt oder auch im Gehege an unterschiedlichen Plätzen versteckt.
Auch Futterbeschäftigungsmöglichkeiten werden den Bären zur Verfügung gestellt. Die Pfleger sind bemüht, die Fütterung der Bären möglichst abwechslungsreich zu gestalten und immer wieder unterschiedliche Orte und Reize zu schaffen. Die Fütterung der Bären ist dabei individuell an das einzelne Tier angepasst.
Die einzelnen Gehege im Bärenwald bieten jedem Bären etwa 5000 Quadratmeter Platz. Wiesenflächen, große Teiche und natürliche Bachläufe bieten den Bären einen möglichst naturgetreuen Lebensraum. Viele von ihnen lieben das Wasser.
Video: VIER PFOTEN | Riccardo Maywald
Nur zwei Wochen nach dem Besuch gibt es eine traurige Nachricht
Zu ihnen gehörte unter anderem Balou, der gerne im Teich seines Geheges ein Bad nahm. Der verspielte und intelligente Bär, der der größte im Bärenwald war, stammte aus einem Wildgehege mit schrecklichen Haltungsbedingungen ohne Rückzugsmöglichkeiten und Grünflächen. Umso schöner war es daher, dass man beobachten konnte, wie er im Bärenwald zu einem Bärenleben zurückfinden konnte: Baden im Teich und Wald und Wiesen durchforsten.
Bei meinem Besuch konnte ich Balou noch in einer gemütlichen Pose dösend in seinem Gehege beobachten. Traurigerweise erreichte mich zwei Wochen später die Nachricht, dass er aufgrund von starken und bleibenden Schmerzen eingeschläfert werden musste.
Die Bären, die versterben, werden im Bärenwald jedoch niemals vergessen. Auf der Website wird ihnen eine eigene Seite gewidmet und auch im Bärenwald kann man ihnen gedenken. Unter einem alten Baum bekommt jeder verstorbene Bär einen Erinnerungsstein. Auch für Balou wird dort bald ein Stein liegen.
Die Nachzucht von Wildtieren soll vermieden werden
Immer wieder kommen Fragen auf, weshalb es keine Jungbären im Bärenwald gebe, sagt Petra Konermann. Den vielen fragenden Besuchern erklärt sie dann, dass alle männlichen Bären, die in den Bärenwald einziehen, kastriert werden, um eine Nachzucht von Wildtieren zu vermeiden.
Denn beim Bärenwald gehe es nicht darum, Tiere zu präsentieren, sondern geretteten Bären ein möglichst naturgetreues und geeignetes Zuhause zu bieten. Viele von ihnen sind durch die jahrelang schlechten Haltungsbedingungen verhaltensauffällig. Im Bärenwald können ihre Instinkte entwickeln und zu einem halbwegs natürlichen Verhalten zurückfinden.
Eine Auswilderung ist in ihrem Fall jedoch einfach nicht mehr möglich. Zu sehr sind sie vom Menschen abhängig. Bei meinem Besuch sehe ich sogar, wie die Bären zum Zaun kommen, sobald sie das Gefährt der Pfleger, die ihnen ihr Futter bringen, hören. In der freien Wildbahn hätten sie keine Überlebenschancen.
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Warum es auch mal gut ist, keine Bären zu sehen
Im Bärenwald steht also klar der Bär an erster Stelle. Täglich geben die Pfleger alles dafür, damit sie ihren Schützlingen das bestmögliche Leben bieten können. Anders als im Zoo geht es im Bärenwald nicht um die Zurschaustellung der Tiere. Daher sei es auch mal gut, wenn man keinen Bären sieht, erklärt mir Frau Konermann. Dann ist der Bär irgendwo in den Weiten des Geheges unterwegs und lebt sich aus.
Der Bärenwald hat 365 Tage im Jahr geöffnet. Auch im Winter, während der Winterruhe der Bären, werden Führungen angeboten. Die kommen besser an, als man gedacht hatte, erfahre ich. Obwohl man zu dieser Zeit im besten Fall gar keine Bären sieht.
Auf den Führungen wird erklärt, wie positiv das sei, weil es verdeutlicht, dass die Bären im Bärenwald endlich zu einer natürlichen Verhaltensweise zurückfinden. Das kommt bei den Besuchern, darunter viele Anwohner, die die Einrichtung gratis besuchen dürfen, gut an.