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Straßenhunde-Situation massiv verschlechtert

Tierschützer rufen zum Boykott der Türkei als Urlaubsort auf

Die Situation hat sich für Straßenhunde in der Türkei extrem verschlechtert.
Die Situation hat sich für Straßenhunde in der Türkei extrem verschlechtert. Foto: imageBROKER/Angela to Roxel
Dennis Agyemang
Redakteur

24. März 2025, 6:09 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten

Mit Sorge blicken Tierschützer derzeit in die Türkei. Denn seit Monaten kursieren in den Medien diverse Berichte über das massive Vorgehen der Regierung gegen Straßenhunde. So sollen diese nun vermehrt eingefangen und in vielen Fällen auch getötet werden.

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Weil sich die Situation der Straßenhunde und des Tierschutzes in der Türkei in letzter Zeit massiv verschlechtert haben soll, schlagen Tierschützer Alarm. So finden sich in sozialen Netzwerken regelrechte Horrorvideos. Darin sieht man angebliche Straßensäuberungsaktionen, bei denen Hunde gewaltsam eingefangen und in einigen Fällen sogar getötet werden. PETBOOK sprach mit Lisa Hoth-Zimak, Referentin für Heimtiere beim Deutschen Tierschutzbund, über die aktuelle Situation der Straßenhunde in der Türkei.

„Die Türkei hat im Tierschutz einen gravierenden Rückschritt gemacht“

PETBOOK: Tierschützer blicken aktuell besorgt in Richtung Türkei. Was genau passiert dort?
Lisa Hoth-Zimak: „Die Türkei hat im Tierschutz einen gravierenden Rückschritt gemacht, der derzeit Leid und Tod über die türkischen Straßenhunde bringt. Nach einer umstrittenen Gesetzesänderung geht die Türkei massiv gegen Straßenhunde im Land vor. Seit dem zweiten August 2024 erlaubt ein Schlupfloch im neuen Gesetz die Tötung der Tiere. Seitdem häufen sich die grausamen Informationen und Bilder aus der Türkei: Hunde, die brutal eingefangen werden, verheerende Zustände in städtischen Tierheimen, Kadaver getöteter Straßenhunde, Berichte über Misshandlungen von Tieren und ein radikales Vorgehen gegen Tierschützer.“

Was steckt dahinter?
„Zurückzuführen ist die Gesetzesänderung auf Beißvorfälle mit Straßenhunden, teils mit Todesfolge. Ohne Zweifel sind solche Beißvorfälle schlimm. Dennoch stellt das Töten der Tiere keine geeignete Maßnahme dar, um die Straßenhundepopulation nachhaltig zu begrenzen. Vielmehr braucht es eine tierschutzgerechte und langfristige Lösung, basierend auf Kastrationen. Denn auch das Vorgehen gegen die Straßenhunde selbst – Töten und tierschutzwidrige Handlungen – führt zu Traumata. Das gilt insbesondere für Kindern, die diese Gewalt an Tieren miterleben. Aus Expertensicht ist vielmehr davon auszugehen, dass das Umsetzen von Kastrationsmaßnahmen wie ‚fangen, kastrieren, freilassen‘ Konflikte mit der Bevölkerung vorbeugt, also auch Beißvorfällen. So treten weniger Aggressionen etwa im Zusammenhang mit Paarungsverhalten auf.“

„Es scheint, dass das Thema Populationsmanagement von Straßenhunden auch ein Politisches ist oder wird“

Gibt es hierfür Erfahrungswerte, auf die Sie sich berufen können?
„Diese Sicht wird uns auch durch unsere eigenen Erfahrungen in unserer mittlerweile jahrzehntelangen Arbeit in Odessa bestätigt. Uns erreichen zudem ähnliche Berichte aus vielen Teilen der Welt. Das Zusammenleben von Mensch und Hunden auf den Straßen Odessas ist entspannter, seitdem die Tiere kastriert werden und mit einem Ohrclip markiert werden. Die Bevölkerung sieht, dass es sich hier um ‚sichere‘ Tiere handelt. Zudem stellen sie durch die Impfungen, die sie erhalten, ein geringeres Ansteckungsrisiko dar.

Entsprechend empfiehlt auch die WHO humanes Populationsmanagement, wobei Kastrationsmaßnahmen ein zentrales Element darstellen, um die Gesundheit der Bevölkerung zu sichern. Die Aussagen, dass die Tötung von Straßentieren dem Schutz der Bevölkerung dienen, sind aus Expertensicht also nicht haltbar. Flankierende Maßnahmen wie Aufklärung über den richtigen Umgang mit Tieren sind notwendig.“

Wie würden Sie die aktuellen Entwicklungen im Hinblick auf Tierschutz im internationalen Kontext einordnen?
„Leider sehen wir auch in anderen Ländern diese Verschlechterung für den Tierschutz. Auch in Kasachstan soll das Töten der Straßentiere, vor allem bei Hunden wieder erlaubt werden. Es scheint, dass das Thema Populationsmanagement von Straßenhunden auch ein politisches ist oder wird. Seit vielen Jahren arbeiten wir in Rumänien, gemeinsam mit der Tierhilfe Hoffnung e.V. Hier wurde nach einem Beißvorfall und Tod eines Kindes durch vermeintliche Straßenhunde das Gesetz hin zur Tötungserlaubnis geändert.“

„Das Töten der Straßentiere ist weder nachhaltig noch tierschutzgerecht“

Gibt es denn trotzdem Ansätze, das Problem mit den Straßenhunden in der Türkei anders zu lösen?
„Nach sehr viel politischer Arbeit konnten wir ein Modellprojekt im Landkreis Arges gemeinsam mit allen Entscheidungsträgern ins Leben rufen. Dieses wird nun in den nächsten Jahren umgesetzt und führt hoffentlich langfristig dazu, dass man die Kastration anstatt der Tötung der Tiere wieder anstrebt und im Gesetz verankert. 

Das Töten der Straßentiere ist weder nachhaltig noch tierschutzgerecht. Es ist niemals möglich, alle Tiere gleichzeitig zu fangen und zu töten. Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen und unseren Erfahrungen sollte das Prinzip ‚fangen, kastrieren, freilassen‘ – kurz FKF-Prinzip genannt – angewandt werden. Hunde in Privathaushalten, die freilaufen oder ausgesetzt werden, tragen nachweislich zur Population bei: Auch sie müssen kastriert werden. Nur wenn umfangreiche flankierende Maßnahmen unternommen werden, kann langfristig die Straßentierproblematik gelöst werden.“ 

Im Netz finden sich viele furchtbare Videos, die angebliche Vorfälle mit Straßenhunden in der Türkei. Für wie echt schätzen Sie diese Videos ein, die aktuelle dazu in den sozialen Netzwerken kursieren?
„Das kann im Zweifelsfall nur von Experten überprüft werden. Unser Mitgliedsverein vor Ort, die Datca Dogs, sind jedoch gut vernetzt. Es gibt in jedem Fall bestätigte Fälle von Gewalt an Straßenhunden durch Menschen.“

Tierschützer rufen zum Boykott der Türkei als Urlaubsort auf

Was kann jeder Einzelne tun, um den Straßenhunden in der Türkei zu helfen?
„Wir können Tierfreunden aus Deutschland nur empfehlen, die Türkei als Urlaubsland zu meiden und damit Druck auf die türkische Regierung aufzubauen. Unsererseits bestand der Versuch einen Termin mit dem Tourismusminister zu erwirken. Aufgrund der stabilen Zahlen im vergangenen Jahr wurde von Seite der türkischen Regierung jedoch nicht mehr darauf eingegangen. Auch unser Brief an Präsident Erdogan blieb unbeantwortet. Leider wird der Tierschutz schnell hinten angestellt, wenn kein wirtschaftliches Druckmittel besteht.

Wer darüber hinaus helfen möchte, kann Personen im eigenen Umfeld über die Tierschutzproblematik aufklären. Auch Spenden an Tierschutzorganisationen, die sich in der Türkei um Straßentiere kümmern, helfen. Es bleibt weiterhin das Problem, dass es nicht genügend Plätze in Tierheimen gibt. Die Gesetzgebung sieht jedoch vor, dass die Hunde dorthin verbracht werden. Vier Millionen Straßenhunden stehen dabei ungefähr nur 100.000 Tierheimplätzen gegenüber.“

„Die dauerhafte Unterbringung in Tierheimen ist nicht tierschutzgerecht“

Könnte man die Hunde nicht in andere Länder zur Vermittlung bringen?
„Viele Tierschutzvereine vor Ort sind bemüht, die Tiere von den Straßen zu holen, um sie vor Gewalt oder dem Töten zu schützen. Dadurch können aber neue tierschutzrelevante Probleme entstehen wie Überbelegung oder die Verbreitung von Erkrankungen. Der Import von Tieren hilft zwar dem Einzeltier, nicht jedoch den zurückgebliebenen. Zumal nicht jedes Tier für ein Zusammenleben mit dem Menschen, so wie wir es kennen, geeignet ist.

Es sollte also die Lösung vor Ort angestrebt werden. Allen voran die Rückkehr zur Kastration und wieder Freilassen der Tiere. Nur so kann allen Tieren nachhaltig und tierschutzgerecht geholfen werden. Auch die dauerhafte Unterbringung in Tierheimen ist nicht tierschutzgerecht und noch dazu die teuerste Methode. Sie kann ebenso nicht funktionieren. Denn das Problem besteht, dass nicht alle Tiere gleichzeitig gefangen werden können und die verbliebenen Hunde sich rasch wieder vermehren.“

Welche Forderungen haben Sie an die Politik?
„Unsere Appelle für eine tierfreundliche Lösung an das zuständige türkische Landwirtschafts- und Forstministerium und die deutsche Botschaft in der Türkei. Aber auch an die türkische Botschaft in Deutschland sowie die deutsch-türkische Parlamentariergruppe im Bundestag. Leider blieben die Appelle zahlreicher Tierschützer aus der Türkei bisher ungehört. Dabei gibt es mit dem FKF-Prinzip eine tierfreundliche Alternative, um die Straßentierpopulation zu verringern. Wir setzen uns auch weiter, gemeinsam mit unserem Mitgliedsverein vor Ort, dafür ein, dass die Kastration und Umsetzung des Prinzips wieder gesetzlich verankert wird.“

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„Wir raten generell ab, unüberlegt Hunde aus dem Ausland zu importieren“

Erwarten Sie trotzdem, dass demnächst jetzt auch vermehrt Tierschutzhunde aus der Türkei in Deutschland landen?
„In den sozialen Medien wird bereits dazu aufgerufen. Zumal uns bekannt wurde, dass der Export durch erhöhte Ausreisekosten erschwert und daraus scheinbar sogar ein neues Geschäftsmodell betrieben wird. Wir raten generell ab, unüberlegt Hunde aus dem Ausland zu importieren, vor allem, wenn Druck aufgebaut wird. Ganz allgemein sollten Hunde aus dem Ausland hinsichtlich Gesundheit und Verhalten vorausgewählt werden. Nicht jeder Hund eignet sich für ein enges Zusammenleben mit dem Menschen, so wie es sich die Besitzer vorstellen.

Hunde müssen nicht nur gegen Tollwut, sondern auch weitere Erkrankungen geimpft werden. Auch eine Behandlung gegen Parasiten und Testung auf sog. Reisekrankheiten muss bedacht werden. Direktvermittlungen bergen die Gefahr, dass Hund und Besitzende nicht zusammenpassen und der Hund im deutschen Tierheim landet, die wiederum ohnehin schon belastet sind. In solchen Situationen werden insbesondere auch illegale Praktiken forciert. Oder Scheinkäufe angeboten, in denen dann nur Geld auf ein privates Konto gezahlt und kein Hund übergeben wird. In unserem Hintergrundpapier haben wir die wichtigsten Punkte gelistet, die mindestens beachtet werden sollten, um seriöse und unseriöse Vereine zu unterscheiden.“

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