7. August 2024, 18:03 Uhr | Lesezeit: 19 Minuten
Der Krieg in der Ukraine produziert unglaubliches Leid. Nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Tieren, die sich häufig nicht selbst helfen können oder sogar zurückbleiben. Seit Beginn der Kämpfe ist die Animal Rescue Kharkiv mit Unterstützung der Tierrechtsorganisation Peta vor Ort, um zu helfen. Im Interview gibt die Projektleiterin Sylvie Bunz PETBOOK einen Einblick in die Einsätze an der Front und was danach mit den Tieren geschieht.
Seit Februar 2022 läuft in der Ukraine eine von Russland durchgeführte „Spezial-Miliär-Operation“, die de facto ein Krieg ist, der ein europäisches Land in seiner Souveränität verletzt und unglaubliches Leid produziert. Nicht nur bei der menschlichen Bevölkerung des Landes am Schwarzen Meer, sondern auch bei vielen Tieren. Darunter viele Hunde und Katzen, aber – besonders in den ländlichen Gebieten – auch etliche sogenannte Nutztiere.
Seit dem Beginn des Krieges sind unzählige Rettungsaktionen für die meist in aller Eile zurückgelassenen Tiere in den Kriegesgebieten der Ukraine durchgeführt worden. Eine Organisation, die seit Tag eins des Krieges immer wieder Tiere (und manchmal auch Menschen) aus Sperrzonen holt, ist die von der Tierrrechtsorganisation Peta unterstützte Animal Rescue Kharkiv (ARK). PETBOOK sprach mit Sylvie Bunz, Fachleitung Special Projects bei der Tierrechtsorganisation, über die Tierrettung unter Lebensgefahr und Minenhagel.
PETBOOK: Frau Bunz, die Organisation Animal Rescue Kharkiv ist seit Beginn des Krieges mit Unterstützung von Peta im Einsatz in der Ukraine. In dieser Zeit gab es viel Leid, aber auch Helden wie Alla Pushkarchuk. Eine junge Frau, die ihr Leben in der Sicherheit aufgab, ins Militär ging und im April 2024 an der Front getötet wurde.
Sylvie Bunz: „Ja, das ist eine Geschichte, die man nicht vergessen kann. Als ich das Video mit ihrem Nachruf gesehen habe, musste ich weinen. Es verdeutlicht, was es für die Menschen in der Ukraine bedeutet, im Krieg zu leben, an der Front im Militärdienst zu sein und dazu noch den Tieren zu helfen.
In der Ukraine gibt es ein Gesetz: Wenn ein Ehepaar im Militärdienst ist oder Eltern und Kinder, und jemand fällt im Kampf an der Front, darf der Überlebende den Militärdienst ehrenhaft verlassen. Einfach, weil dieser Krieg schon genügend Opfer gebracht hat. Allas Mann sagte daraufhin, dass er das ukrainische Militär verlässt. Und dann stand er vor der Tür von ARK in Charkiw und leitet jetzt unser zweitgrößtes Einsatzteam.“
Wie sieht so ein Einsatz aus?
„Er ist jeden Tag draußen an der Front, um das, was seiner Frau so wichtig war, voranzutreiben: Für sie weiter Tiere zu retten. Und wirklich bewundernswert ist: So groß sein Schmerz auch ist, er ist trotzdem unfassbar witzig. Mit unglaublicher Stärke schaffen es die Einsatzkräfte, das Leid zu ertragen oder zu verdrängen – das vermag ich nicht zu beurteilen. Vielleicht ein wenig von beidem. Und sie machen immer weiter, jeden Tag. Das ist wirklich sehr bewundernswert. Dass die beiden getrennt wurden, dass das Schicksal das zugelassen hat – so etwas dürfte es nicht geben.“
Retter brauchen Bauchgefühl dafür, wie man verängstigte Tiere einfängt
In vielen weiteren Videos von Animal Rescue Kharkiv hat man gesehen, dass einige Tiere wirklich extrem verängstigt waren und auch Zähne gezeigt haben. Wie geht man allgemein bei der Rettung von verletzten Tieren vor? Schließlich muss man sich ja auch selbst schützen.
„Ja, das ist manchmal sehr gefährlich. Für das Tierrettungsteam ist es wichtig, dass alle einen militärischen Hintergrund haben. Wir arbeiten auch sehr eng mit dem Militär zusammen.“
Was muss eine Einsatzkraft an Fähigkeiten mitbringen?
„Im Einsatz müssen Befehlsketten befolgt werden, denn es ist sehr riskant. Jeder Schritt kann lebensbedrohlich sein. Auf der anderen Seite bringen sie natürlich viele Fähigkeiten mit und ein großes Bauchgefühl dafür, wie man Tiere, die verängstigt sind, einfängt und wann man es nicht kann. Wenn man in einem zertrümmerten Haus ist und weiß: ‚Ich habe jetzt eine Stunde Zeit, um so viele Tiere wie möglich zu retten‘ – dann hat man diese Stunde nicht, um einen Hund oder eine Katze zu beruhigen, damit sie sich anfassen lassen. Es sollen so viele wie möglich gesichert werden. Daher haben es alle in den Rettungsteams gelernt, mit dem Blasrohr Tiere zu narkotisieren.“
»Erst Leben retten – um die Seele kümmern wir uns im Projekt
Wie gehen die Einsatzkräfte konkret bei einer Tierrettung vor?
„Zuerst versucht man ruhig in die Nähe des Tieres zu gelangen. Dabei muss man aufpassen, dass beispielsweise ein Hund nicht plötzlich herkommt und möglichweise zubeißt. Wenn Hunde Angst haben, wollen sie zumeist die Distanz vergrößern und weiter zurück in Deckung gehen. In so einem Moment könnten sie auch zuschnappen. Würde ein Hund beißen, fällt ein Teammitglied mit einer Bisswunde für den weiteren Einsatz aus. Die Sicherung der Personen geht vor. Deswegen: erst einmal ruhig bleiben, atmen, langsam rangehen. Bei Hunden eine Leine um den Hals legen, Katzen mit Handschuhen halten. Hunde werden dann vorsichtig hochgenommen und zum Auto und in die Box getragen. Katzen werden oft direkt in Boxen gesichert.
Wir sagen immer: Erst einmal heißt es Leben retten – um die Seele kümmern wir uns im Projekt. Denn Retten ist viel mehr, als nur die Tiere aus den Trümmern an der Front zu bergen. Das eine ist zwar sehr gefährlich, doch danach kommt die große Arbeit: dem Tier zu einem möglichst langem und gesundem sowie sorgenfreiem und würdevollem Leben zu verhelfen.“
Tierhilfe in Ukraine rettete schon 17.000 Tiere
Wie verhalten sich die Tiere in den ersten Stunden in der Zuflucht bei Charkiw? Ich kann mir vorstellen, dass man sie zunächst separieren und in Ruhe lassen muss.
„Das hängt vom jeweiligen Tier ab. Mit der Zeit haben wir allerdings Erfahrung gesammelt. Bis jetzt haben wir 17.000 Tiere gerettet und sie in ein schönes Leben gebracht. 1300 sind aktuell noch vor Ort und jedes Tier ist natürlich so individuell wie jeder von uns Menschen. Und diese Bandbreite erleben wir auch.
Es gibt Hunde, die sind vom ersten Moment an cool drauf, lassen sich anfassen, freuen sich, essen, trinken – alles ist gut. Wir haben natürlich auch Hunde, die so verängstigt sind, dass sie in die Distanzvergrößerung gehen – diese kann unterschiedlich aussehen. Diese Tiere lassen wir vorerst runterkommen. Aber man merkt schnell, wenn sie sich mit anderen Hunden verstehen. Dann kann man vorsichtig versuchen, sie zusammenzuführen und den Neuen mit einem Hund, der schon entspannter ist, zusammenbringen. Damit lösen sich schon viele Themen.
Die meisten sind nach wenigen Tagen zutraulich und sehr umgänglich, wenn sich die Aufregung gelegt hat. Aus Sicht der Hunde ist das alles absolut verständlich. Ihr ganzes Leben ändert sich in kurzer Zeit, das müssen sie erst einmal verstehen und die Situation einordnen. Alle Tiere, die neu ankommen, gehen intern in Quarantäne – gemeinsam, wie sie gerettet wurden, oder sie kommen in die Klinik. Je nachdem, wie es den Tieren geht.“
„Sie verstecken sich und zittern“
Gibt es auch Hunde, die stark traumatisiert sind? Wie geht man da vor?
„Wir haben tatsächlich auch Angsthunde, die wirklich stark traumatisiert und ängstlich sind nach dem, was sie erlebt haben. Nicht alle Hunde gehen nach vorne, um sich zu verteidigen und durch ihre auf Laien aggressiv wirkende Haltung Distanz zu schaffen. Viele ziehen sich sofort zurück. Sie verstecken sich und zittern. Sie wollen Ruhe und Abstand. An diese Hunde versuchen wir mit ganz viel Liebe und Ruhe ranzugehen, abzuwarten und sie zu nichts zu zwingen. Sie bekommen Nahrung, Wasser und falls nötig, werden sie behandelt. Zur Not müssen sie für Letzteres noch mal mit dem Blasrohr in Narkose gelegt werden. Denn Schmerzen von Verletzungen können neben seelischen Narben auch Ursache des Verhaltens sein.“
„Tiere spüren schnell, dass man es gut mit ihnen meint“
Wie gehen Sie damit um, wenn Hunde verletzt sind?
„Wir haben leider sehr viele schwer verletzte Hunde, die wir aus ihrer Not rausholen. Viele Verletzungen kommen durch den Krieg, etwa durch herunterfallende Trümmerteile oder Splitter von Bomben. Diese tragen verkantete Metallteile, die in alle Richtungen hochstehen. Beim Aufprall fliegen sie in alle Richtungen. Solche Bomben verursachen unheimlich scharfe Verletzungen und durchtrennen sogar Knochen. Daher sehen wir sehr viele offene Frakturen, die natürlich behandelt werden müssen.
Bei einem super ängstlichen Tier, das Schmerzen hat, kann man gut zureden, aber es möchte sich nicht anfassen lassen: Das wird erst mal nichts. Das heißt, wir legen die Tiere mithilfe eines Blasrohres in Narkose. Dann können Schmerzmittel gegeben und ein Tropf gelegt oder nötige Operationen durchgeführt werden. Mit weniger oder ohne Schmerzen lösen sich dann Panik und Unsicherheit bei vielen Tieren auf und sie spüren schnell, dass man es gut mit ihnen meint.“
Was passiert nach der Akutversorgung weiter mit den Tieren?
„Da die Ukraine immer noch ein Drittstaat ist, dauert es mindestens vier Monate, bis die Tiere in die Europäische Union einreisen dürfen. Vor Ort haben wir Stellen, wo die Tiere Reha und weiteres Training bekommen können. Dafür haben wir sogar einen Hundetrainer im Projekt. Manche Hunde sind so stark traumatisiert, dass sie schon zwei Jahre lang von Trainern betreut werden, die auf Angsthunde spezialisiert sind. Es kann also lange dauern, bis sie vermittelt werden können. Dafür muss das Team Menschen finden, die den Umgang mit sensiblen Hunden gewöhnt sind. Solche Tiere würden in einer Großfamilie mitten in der Stadt nicht zurechtkommen. Daher muss man bei der Vermittlung sehr einfühlsam vorgehen. Die meisten Tiere werden über die Partner-Tierheime von ARK in Europa vermittelt.“
Tierrettung in der Ukraine: »Wer hatte denn schon zu Beginn des Krieges einen für die Ausreise vorbereiteten Hund?
Gehen Tiere auch an ihre Halter zurück?
„Zu Beginn des Krieges konnten wir noch etwa 60 Prozent an ihre Halter zurückgeben, die mittlerweile in Europa leben. Am Anfang waren sie erst einmal geflüchtet, und wussten nicht, ob sie ihre Tiere mitnehmen können. Die Hunde waren zudem nicht auf die Ausreise vorbereitet. Warum sollten sie auch? Ihre Halter wollten ja nicht weg.
Entsprechend sind die Tiere zunächst im Land geblieben und in unsere Obhut gekommen. Die anderen 40 Prozent wurden dann über Partner-Tierheime vermittelt. Momentan schaffen wir die Wiedervereinigung von 60 Prozent nicht, weil es so viele Tiere von der Frontlinie sind. Dort ist die Lage so dramatisch, dass wir im Moment 25 bis 30 Prozent Wiedervermittlungen – auch innerhalb der Ukraine – erreichen. Denn viele Menschen flüchten in den Westen des Landes.“
Wie läuft die Zusammenarbeit mit den Tierheimen ab?
„Mit guter Kommunikation und sehr viel Ehrlichkeit. Wir sagen den Partner-Tierheimen: ‚Da kommen jetzt drei Hunde, die sind super, das wird easy.‘ oder aber: ‚Dieser ist ein bisschen ängstlicher. Der hier braucht ein bisschen Zeit. Wenn er gemerkt hat, dass alles gut ist, dann öffnet er sich.‘
Und das ist die große Verantwortung dahinter. Je mehr Informationen wir von vornherein übermitteln, desto einfacher wird es, die passenden Menschen für die Tiere zu finden. Erst dann betrachten wir ein Tier als wirklich gerettet. Animal Rescue Kharkiv gibt diese Informationen mit auf den Weg der Tiere – ebenso alle Papiere und Auskünfte über ihre Kranken- und Behandlungsgeschichte.“
»Hotline klingelt ununterbrochen
Mittlerweile weiß das Militär aber sicherlich auch, dass die Leute nicht so schnell zurückkommen werden. Können die Tiere nicht gleich mit evakuiert werden oder ist dafür gar nicht die Zeit?
„Häufig machen sie das. Unsere Erfahrung ist, dass das ukrainische Militär da wirklich richtig großartig ist. Sie sind sehr tierlieb. Wenn sie können, nehmen Sie noch die Entenmutter mit den Küken in einem Karton und die Katze unter dem Arm mit. Aber es gibt natürlich einfach zu viele Tiere, um alle zu retten. Ihre Hauptaufgabe – das muss man auch ehrlich sagen – ist nicht die Tierrettung, sondern die Dörfer zu evakuieren und natürlich zu kämpfen, so bitter das auch klingt.
Ein Teil der Menschen flüchtet und nimmt zumindest ein paar Tiere mit. Andere wiederum halten viele, wenig ‚mobile‘ Tiere, gerade in den ländlichen Regionen, etwa drei Hunde, sieben Katzen, Hühner, zwei Schafe, zwei Ziegen und zwei Pferde. Für das Militär ist es gar nicht zu schaffen, alle mitzunehmen.“
Was passiert mit den Tieren, die zurückbleiben?
„Das Militär ruft uns dann an, damit wir vor jedem Rettungseinsatz Bescheid wissen. Es gibt auch eine Hotline, die ununterbrochen klingelt. Da rufen zum einen Geflüchtete an und sagen: ‚Bitte, bitte, ich komme aus einem Dorf, meine Tiere sind noch da, ich konnte sie nicht mitnehmen. Bitte holt meine Tiere. Ich kann sie im Moment nicht unterbringen.‘
Auch Bewohner, die in den Dörfern geblieben sind, rufen an. Gerade die alten Menschen bleiben häufig da, denn die Ukrainer sind sehr verwurzelt mit ihrer Heimat, ihrem Landstrich und natürlich auch ihrem kleinen Haus mit Garten. Denn das ist alles, was sie haben. Wenn die Fronten näherkommen, wird es brenzlig. Dann nimmt ARK in Absprache mit dem Militär Menschen und Tiere mit raus.“
„Wir haben zurzeit zwischen 300 und 400 Schafe, Ziegen, Kühe, Pferde und Kaninchen“
Wie läuft ein Einsatz unter Beschuss ab?
„Die russischen Drohnen schießen auf alles, was sich bewegt. Häufig werden unsere Fahrzeuge zerstört oder stark beschädigt. Es ist extrem bewundernswert, wie das Team das jeden Tag schafft. Und deshalb ist auch die militärische Erfahrung so wichtig. Wenn der Einsatzleiter ruft: ‚In Deckung‘, dann gehen auch alle in Deckung – auch wenn sie die Gefahr selbst noch nicht gesehen haben.
Oft parkt ARK die Autos irgendwo an einem Waldrand und das Team läuft lieber zwei Kilometer in Tarnkleidung, um den Tieren zu helfen. Sie wissen, dass es keinen Schutz auf der Straße gibt. Es gibt tatsächlich auch in manchen Gegenden kaum noch intakte Straßen.“
»Eine Bombe fiel direkt auf das Tierheim
Was war die letzte große Rettungsaktion?
„Letztens waren die Tierretter und -retterinnen in einem Dorf, wo ein kleines Mehrfamilienhaus stand. Die Nachbarn sagten: ‚Hier sind Hunde im Treppenhaus. Das Haus ist unbewohnt, aber hier sind viele verängstigte Tiere. Könnt ihr kommen?‘
Am Ende waren es gar keine Hunde, sondern Schafe, die sich in den Überresten eines Treppenhauses befanden. Und es ist wirklich nicht einfach, acht Schafe zwei Kilometer bis zum Auto zu tragen. Sie waren so verängstigt und wollten nicht laufen. Und es war 38 Grad heiß.“
Aber die Schafe haben es geschafft?
„Alles ist gut, alle Schafe sind bei uns im Projekt. In der Zuflucht für Tiere haben wir zurzeit zwischen 300 und 400 Schafe, Ziegen, Kühe, Pferde und Kaninchen. In den ersten Tagen des Krieges sah es noch ganz anders aus. Wir mussten von einem Tag auf den anderen eine Lösung finden und haben leere Pferdeställen gemietet, um Tiere dort unterzubringen. Das war eine Notlösung, aber funktionierte gut für viele Monate. In den ersten Tagen des Krieges fiel eine Bombe direkt auf das Tierheim von Animal Rescue Kharkiv. Von 400 Hunden starben fast alle. Das heißt, es gab keinen Ort mehr, an dem die Organisation die Tiere unterbringen konnte. Eine schnelle und pragmatische Lösung waren die Pferdeställe.“
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Tierrettung in der Ukraine: »Brauchen 85 Mitarbeiter, um alle Tiere zu versorgen
Wo kommen die Tiere denn unter?
„Mittlerweile haben wir ein tolles Projekt auf die Beine gestellt, das gut gelegen ist und derzeit aufgebaut wird. Wir haben sehr lange nach einem geeigneten Grundstück gesucht. Auch weil die Lage von Charkiw schwierig ist. Aber wir sagten uns: Wir sind Peta und Peta handelt mutig und dort, wo die Hilfe benötigt wird, auch wenn es gefährlich ist. So haben wir jetzt 14 Hektar für eine günstige Pacht bekommen.
Mittlerweile haben wir schon ungefähr 300 sogenannte Farmtiere dort untergebracht. Sie sind sehr froh über den Schatten und den Platz draußen bei der Hitze im Sommer. Auch die Hunde werden jetzt nach und nach umziehen. Aktuell baut ARK dort große, eingezäunte Bereiche mit der Unterstützung von Peta. Zum Glück haben wir diesen Ort gefunden, um an dieser Stelle das Projekt aufzubauen. Wir hoffen, dass wir dort bleiben können – aber in der aktuellen Lage kann das niemand für die Zukunft beantworten.“
»Tiere leben immer im Jetzt
Wie viele Leute sind aktuell am Projekt beteiligt?
„Als der Krieg ausbrach, haben ungefähr zehn Menschen aktiv bei ARK gearbeitet. Ehrenamtliche haben alles gemanagt. Mittlerweile sind circa 85 Mitarbeitende vor Ort. 1300 Tiere wollen täglich versorgt werden. Zudem unterhalten wir eine Tierklinik und ein Kastrationsprojekt.“
Man sieht ja auf den Bildern, gerade wenn ein Hund oder eine Katze verletzt ist, tatsächlich das Leid im Ausdruck der Tiere. Kann man sagen, ab wann das besser wird?
„Das ist sehr, sehr unterschiedlich. Wie wir Menschen, unterscheiden sich auch Tiere in ihrer Resilienz. Aber wir sehen häufig, dass sich das Leid in den Augen der Tiere immer weiter auflöst, sobald sie sich im Projekt eingefunden haben, etwas Ruhe eingekehrt ist und sie respektvoll behandelt werden. Da sind Tiere wirklich bewundernswert. Sie leben immer im Jetzt.
Aber es wird wahrscheinlich immer Hunde geben, die bei plötzlichen, unerwarteten Geräuschen ängstlicher reagieren. Darauf muss man sich einstellen, glaube ich.“
Gibt es einen Zeitpunkt, zu dem man sagen kann, sie haben es verarbeitet? Ganz vergessen werden sie es natürlich nicht …
„Da ist es wie bei allen Lebewesen, die Schlimmes erlebt haben. Es gibt Momente, in denen ein Trauma noch mal hochkommt. Das passiert in der Regel bei allen Tieren, die schon einmal mit Härte – in welcher Form auch immer – oder mit einem lieblosen Umgang konfrontiert waren. Das kennen alle Tierschützer: In einer Situation sind die Tiere noch locker und dann gibt es immer Momente, in denen sie an irgendwas erinnert werden.“
»Ein ängstlicher Hund, der an der Kette lag, wird tendenziell kein Familienhund
Wenn wir jetzt über Tiere sprechen, die Traumata haben und eher aus dem ländlichen Bereich kommen, wäre es wahrscheinlich eine riesige Umstellung, wenn sie in eine Großstadt kommen. Kann man die Tiere dorthin vermitteln?
„Die Mitarbeiter von Animal Rescue Kharkiv versuchen, die Tiere danach zu vermitteln, wie sie sich verhalten. Ein ängstlicher Hund, der auf dem Land viele Jahre nur an der Kette war und nichts kannte, wird tendenziell kein Familienhund, der im Café unter dem Tisch liegt. Aber es gibt auch Hunde, die heimatlos in einer kleinen Stadt lebten und mit alltäglichen Begebenheiten vertraut sind. Das sind oftmals Allrounder im Leben.
Viel schwieriger sind Tiere, die nichts erlebt haben. Die sozusagen geboren wurden und an ein und demselben Ort lebten, ohne viele Erfahrungen zu sammeln. Diese bringen oft ein ‚Päckchen‘ mit, an dem man ihr Leben lang hart arbeiten muss. Nicht alle gewöhnen sich an das Zusammenleben mit einem Menschen. Aber ganz viele kriegt man gut ans Leben herangeführt. Der überwiegende Teil der Tiere erstaunt uns positiv, wie umgänglich, lieb und fröhlich sie sind – sie sind einfach super.“
Spediteur reiste in die Ukraine: „Ich weiß, dass ich nicht mehr zurückkommen werde, aber das ist meine Aufgabe“
Gibt es eine Geschichte, an die Sie immer wieder zurückdenken müssen?
„Ja, aus den Anfangstagen dieses Krieges. Für uns von Peta war es von Anfang an wichtig, Tiernahrung ins Land zu bringen. Das war das Erste, was fehlte und teuer wurde. Ein guter Partner von uns, der vegane Tiernahrung für Peta produziert und die Transporte organisiert, ihn habe ich sofort angerufen. Er sagte prompt: ‚Ich helfe dir sofort. Aber wir brauchen eine Spedition, die rüberfährt.‘
Doch welche deutsche Spedition sollte ins Kriegsgebiet in der Ukraine fahren? Also haben wir ukrainische Speditionen kontaktiert, die Fahrer in Deutschland hatten. Zu dem Zeitpunkt war klar: Jeder Mann, der gerade in Europa unterwegs ist und in die Ukraine geht, kommt sehr wahrscheinlich nicht mehr raus.
Trotzdem haben wir einen Spediteur gefunden, der bereit war, 20 Tonnen Futter in die Ukraine mit dem LKW mitzunehmen. Er sagte: ‚Ich fahre bis an die Front, gehe dann direkt zum Militär und kämpfe für mein Land. Das mache ich für die Tiere. Ich weiß, dass ich nicht mehr zurückkommen werde, aber das ist meine Aufgabe.‘
Das fand ich damals unglaublich berührend und ich denke häufiger an diesen Mann. Ich frage mich, ob er noch lebt und ob er immer noch an der Front im Militärdienst ist und dort kämpft.“
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„Dächer schwammen vorbei, obendrauf saßen zwei Katzen“
Ein besonderer Fall war die Staudammsprengung von Cherson 2023 und die folgende Überflutung. In dieser Situation kann ich es mir ebenfalls unglaublich schwer vorstellen, Tiere zu retten.
„Das waren unvorstellbare Wassermassen. Ganze Dörfer und Landstriche wurden einfach weggespült. Als wir davon hörten, legten wir sofort los. ARK kaufte mit Petas Hilfe sofort Schlauchboote mit Motoren, schickte Teams nach Cherson und kontaktierte das Militär vor Ort, um Tiere aus dem Wasser zu retten; natürlich auch Menschen.
Die Lage dort kann man sich nicht vorstellen: Dächer schwammen vorbei, obendrauf saßen zwei Katzen. Dazwischen trieben auch tote Menschen, tote Tiere. Auch das Wasser selbst war gefährlich, denn es hatte ganze Orte mitgerissen, aus denen sich die Russen gerade erst zurückgezogen hatten. Und wenn sie das tun, verminen sie diese Gebiete zumeist. Das Rettungsteam wusste also nicht, was sich alles im Wasser befand: vielleicht Minen, Zäune, Metallteile oder Strommasten, die weggeschwemmt wurden? Alles, wo vorher Leben stattgefunden hatte, hat dieses Wasser vor sich hergetrieben.
Die Tierschützer waren unermüdlich im Einsatz. Zusammen mit anderen Organisationen aus der Region haben sie einander Tiere abgenommen, untergebracht, Nahrung verteilt – nonstop. Das war ein bewundernswerter Einsatz; on top zu den normalen alltäglichen Dramen.“