23. September 2023, 16:43 Uhr | Lesezeit: 11 Minuten
Der Wolf ist zurück in Deutschland. Mit der wachsenden Population mehren sich auch die Berichte über Wolfsrisse von Nutz- und Weidetieren. Betroffene und nun auch Politiker fordern, den Abschuss der Raubtiere zu erleichtern. Aber wie gefährlich sind Wölfe tatsächlich? PETBOOK sprach mit verschiedenen Experten über das Raubtier.
Obgleich ihn die wenigsten Menschen jemals zu Gesicht bekommen dürften, ist der Wolf derzeit deutschlandweit in aller Munde. Auch Umweltministerin Steffi Lemke (Die Grünen) hatte den scheuen Jäger jüngst zum Thema gemacht: Der Abschuss von Wölfen in Deutschland, die Nutztiere reißen, müsse erleichtert und unbürokratischer möglich werden, forderte sie, wie unter anderem die Tagesschau berichtete. Ein entsprechendes Gesetz soll bis Ende September vorliegen.
In Hessen, wo am 8. Oktober ein neuer Landtag gewählt wird, haben zahlreiche Parteien den Wolf ins Wahlprogramm aufgenommen. Ist die Angst vor dem Raubtier berechtigt oder wird der Wolf nur für politischen Wahlkampf missbraucht und für Klicks in den Medien benutzt, wie etwa der Naturschutzbund in Baden-Württemberg kritisiert? PETBOOK sprach mit verschiedenen Experten über das kontrovers diskutierte Raubtier.
Wie viele Wölfe gibt es in Deutschland?
Seit dem Jahr 2000 breitet sich der Wolf, ausgehend von der Region Lausitz in Sachsen, in Deutschland aus. Laut Zahlen der Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes zum Thema Wolf (DBBW) gibt es im aktuellen Monitoring-Jahr 2022/2023 Nachweise für 94 Rudel, zehn Paare und 15 einzelne, sesshafte Tiere.
Als sesshaft wird ein Wolf bezeichnet, wenn er länger als sechs Monate an einem Ort nachgewiesen wird. Ein Monitoring-Jahr bezeichnet den Zeitraum von April bis zum April des darauffolgenden Jahres. Zwar sind das weniger Rudel als 2021/2022, als noch 161 Wolfsrudel, 43 Paare und 21 Einzeltiere als sesshaft galten. Die Zahlen schwanken aber nicht nur innerhalb der Monitoring-Jahre, sondern auch je nach befragter Stelle.
Laut Bundesamt für Naturschutz etwa kommt man im ganzen Land aktuell auf rund 1200 Tiere. Der Deutsche Bauernverband schätzt die Anzahl der hierzulande lebenden Wölfe für das laufende Jahr dagegen auf 1500 bis 2700 Tiere. „Die Zahlen ergeben sich aus einer Hochrechnung, welche die durchschnittlichen Totfunde und Zuwachsraten der letzten vier Jahre berücksichtigen“, heißt es auf der Homepage des Verbands. Die Spanne der Wolfspopulation wurde nach Zahlen vom DBBW, des Bundesamts für Naturschutz und des Nabu berechnet.
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Weidetiere werden zu Opfern
Immer wieder gibt es Berichte über gerissene Nutztiere wie Schafe und Ziegen. Ende August etwa waren im niedersächsischen Landkreis Stade 55 Schafe einer mehr als 100 Tiere umfassenden Herde verletzt und getötet worden – vermutlich war ein ganzes Wolfsrudel dafür verantwortlich, wie die Kreisjägerschaft mitteilte. Der Weideplatz der Herde war den Angaben zufolge von einem Wolfsschutzzaun umgeben.
Mitte September riss ein Wolf im Landkreis Harburg 16 Schafe innerhalb einer Nacht auf einer ebenfalls eingezäunten Weide, in der Nachbarschaft zu Wohnhäusern. Laut Medienberichten hinterließ das Tier „eine Schneise der Verwüstung“. Bundesweit wurden dieses Jahr bereits mehr als 1100 Angriffe auf rund 4300 Tiere gezählt. Darunter waren auch Pferde, Lamas und Hunde. In mehr als 80 Prozent der Fälle sind jedoch Schafe und Ziegen Opfer von Wölfen. Wehrhafte, ausgewachsene Pferde und Rinder werden jedoch vergleichsweise selten attackiert.
Ist wirklich der Wolf das Problem?
„Kälber trifft es meist auf Abkalbweiden, also dort, wo der Nachwuchs geboren wird“, erläutert Annika Ploenes vom Wolfszentrum Hessen. 2021 starb ein Kalb auf hessischen Weiden, 2023 waren es drei Rinderkälber. Mitunter hole sich ein Wolf jedoch Tiere, die bereits tot auf die Welt kamen oder nur eine geringe Überlebenschance hatten, wie Ploenes erläutert.
Demgegenüber stehen übrigens rund 21000 Kälber, die 2021 jünger als drei Monate alt waren und ohne Zutun des Wolfs zum Abdecker kamen, ohne dass ihr Fleisch oder andere ihrer Bestandteile anschließend in irgendeiner Art genutzt wurden. Das geht aus Zahlen des Hessischen Landtags auf eine kleine Anfrage der Partei Die Linke hervor.
Sollten Wölfe einfach abgeschossen werden?
Wölfe sind europaweit und daher in Deutschland streng geschützt. Wer einen Wolf absichtlich tötet, muss mit einer Geld- oder sogar Freiheitsstrafe rechnen. Nur in genau festgelegten Ausnahmen dürfen die Tiere geschossen werden. Das ist der Fall, wenn sie etwa für Menschen gefährlich geworden sind.
Selbst, wenn Wölfe gelegentlich Weidetiere reißen, gelten sie nicht automatisch als gefährlich. Je nach Bundesland müssen sie dazu mehrfach innerhalb eines gewissen Zeitraums und trotz Schutzmaßnahmen zugeschlagen haben. Daran möchte Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) nun offenbar etwas ändern: Der Abschuss von Wölfen, die Nutztiere reißen, müsse erleichtert und unbürokratischer möglich sein, forderte sie jüngst. Ende September möchte sie einen Gesetzesentwurf dazu vorlegen.
„Sicherheit steht an erster Stelle“, sagt auch Marie Neuwald, Wolfsexpertin vom Naturschutzbund Deutschland. Denn Wölfe fressen eben nicht nur Rehe und andere Waldtiere, sondern bedienen sich mitunter auch dort, wo ihnen die Jagd leicht gemacht wird: Auf umzäunten Weiden mit Vieh, das nicht wegrennen kann. „Für jeden Halter ist es schrecklich, Tiere seiner Herde morgens tot auf der Weide zu finden, gerissen von einem Wolf“, sagt Neuwald. Zum finanziellen und emotionalen Verlust komme der schlimme Anblick, den gerissene Tiere bieten. Denn der Beutegreifer Wolf reißt nicht zwingend nur ein Tier. „Das liegt an seinem Beuteschlag-Reflex“, erläutert Neuwald. Da Schafe oder Ziegen auf einer umzäunten Weide nicht flüchten können, sehe der Wolf aus dem Augenwinkel immer wieder die umherrennenden Tiere, was seinen Reflex aufs Neue anfache.
Das spricht gegen prophylaktische Tötungen
Auch Marie Neuwald vom Nabu hat Verständnis dafür, dass Wölfe unter Umständen entnommen werden müssen: „Wenn es Hinweise gibt, dass sich Wölfe aggressiv verhalten, vor allem gegenüber Menschen oder Hunden, muss man handeln.“
Aber auch in Fällen, in denen selbst ein guter Herdenschutz Wölfe nicht mehr abhält, müssten über einen Abschuss nachgedacht werden. „Man kann von Weidetierhaltern nicht erwarten, dass sie immer mehr investieren, um ihre Tiere zu schützen“, sagt sie. Und wenn die Gesetzgebung das zu schwer mache, „dann muss man da eben noch mal ran ans Gesetz“.
Davon, vorbeugend auch Wölfe zu erschießen, die nicht aufgefallen sind, hält sie jedoch nichts. Das hatte Jörn Grabau, Wolfsberater aus dem Heidekreis in Niedersachsen, in einem Interview mit dem Norddeutschen Rundfunk angeregt. Dies sei überfällig, argumentierte Grabau in dem Gespräch, denn Population und die Anzahl der Vorfälle müssten zum Handeln führen. Allerdings, schränkte Grabau auch ein, dürfe es nicht dazu führen, den Wolf wieder auszurotten. Schließlich würde er Wild reißen, die ansonsten große Schäden an Bäumen im Wald hinterlassen.
Vorbeugung ist die beste Lösung
Die perfekte Lösung, sagt Marie Neuwald, Wolfsexpertin vom Naturschutzbund Deutschland, sehe sie im Umgang mit dem Wolf nicht, wenn man allen Beteiligten gerecht werden wolle. Sie spricht sich für umfassende Weideschutzmaßnahmen aus. Bislang gelten hohe, unter Strom stehende Zäune sowie Herdenschutzhunde als probate Mittel, um Wölfe abzuhalten. Gute Zäune hielten Wölfe bislang zuverlässig ab, sich an Weidetieren zu vergreifen. „Der Schmerzimpuls, den der Wolf erhält, wenn er an einen stromführenden Zaun gerät, ist eine gute und wirksame Erziehungsmethode“, sagt Neuwald. Das Problem: Standardzäune reichen nicht, um Wölfe fernzuhalten. Und: Sollte ein Wolf herausfinden, wie er einen normalen Zaun überwinden oder untergraben kann, gelingt ihm das früher oder später auch beim Wolfsschutzzaun.
„Deshalb ist es schwierig, wenn es in einem Gebiet gute und schlechte Schutzzäune gibt, denn dann kann er an den schlechten üben.“ Hat er dabei Erfolg gehabt, werde er sich an Herdenschutzzäunen ausprobieren und diese womöglich überwinden können. In Hessen etwa sollen Zäune daher mindestens 1,20 Meter hoch, „straff gespannt“ und mit einem „bodenbündigen Abschluss“ bei einem Netzzaun versehen sein. Für Draht- und Litzenzäune gelten bestimmte Voraussetzungen an Anzahl und Abständen zwischen den einzelnen Litzen, damit sie als wolfssicher eingestuft werden können. In Sachsen sollte Gehegewild mit Zäunen geschützt werden, die zwischen 1,80 und zwei Meter hoch sind.
Ab wann gibt es Förderung und Ausgleichszahlungen?
Die meisten Bundesländer, darunter Bayern, Niedersachsen, Sachsen, Nordrhein-Westfalen und Hessen, fördern Schutzmaßnahmen gegen den Wolf. „Dadurch soll die Akzeptanz der Bevölkerung und insbesondere der Nutztierhalterinnen und Nutztierhalter gegenüber dem Wolf gestärkt und ein konfliktarmes Nebeneinander von Mensch und Wolf ermöglicht werden. Damit dient die Richtlinie gleichzeitig auch dem Schutz der Tierart Wolf“, heißt es dazu etwa aus Bayern und Niedersachsen.
Allerdings gilt das nur in sogenannten Wolfspräventionsgebieten, also dort, wo die Tiere nachweislich leben. Zudem müssen die Zäune bestimmte Vorgaben hinsichtlich Höhe, Stromführung und Nutzungsdauer erfüllen. Die Fördersummen sind je nach Bundesland unterschiedlich, werden in der Regel pro Kilometer Zaun oder pro Hektar Weidefläche berechnet.
Auch sogenannte Ausgleichszahlungen für von Wölfen gerissene Tiere werden gezahlt. In der Regel müssen Tierhalter ihre Weiden aber zuvor mit geeigneten Zäunen oder Hunden geschützt haben. Erst, wenn ein Wolf trotzdem ein Tier getötet hat, wird der materielle Schaden ersetzt. Allgemein wurde bislang mehr Geld für Schutzzäune gezahlt als für getötete Tiere, wie die Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes zum Thema Wolf (DBBW) mitteilt: „In Deutschland waren die Ausgaben für Herdenschutzmaßnahmen im Jahr 2022 mit 18.428.830 Euro um ein Vielfaches höher als die Ausgleichszahlungen (616.413 Euro).“
Das meiste Geld floss nach Brandenburg, Niedersachsen und Sachsen. Der beste Schutz vor dem Wolf sei aber, erst gar kein „problematisches Verhalten“ entstehen zu lassen, wie vom Bundesamt für Naturschutz heißt. Der Grundsatz laute: „Nicht annähern, nicht füttern.“
Wie sollte man sich in Wolfsgebieten verhalten?
Marie Neuwald, Ansprechpartnerin für Wolfsberater beim Naturschutzbund Deutschland (Nabu), hat Verhaltenstipps parat, wenn man sich in der Natur ausgewiesener Wolfsgebiete bewegt: „Dort sind Hunde an der Leine oder zumindest, wenn nicht ohnehin Leinenpflicht besteht, gut abrufbar zu halten.“ Denn Wölfe könnten einen Hund sonst für einen Rivalen, einen Spielkameraden oder gar einen Paarungspartner halten, wie auch das Bundesamt für Naturschutz (BfN) erläutert. Je nachdem könnten sie sich dann dem Hund nähern.
Wer auf einem Pferd sitzt und einem Wolf begegnet, wird dagegen vermutlich nicht mal bemerkt. „Es gibt Hinweise, dass Wölfe zwar das Pferd wahrnehmen, dass ihnen begegnet, den Menschen darauf aber nicht“, sagt Neuwald. Angreifen würden Wölfe ein Pferd nicht. Ob zu Fuß, auf dem Pferd oder mit dem Rad, bei einer Wolfsbegegnung sollte man unaufgeregt bleiben und nicht auf das Tier zugehen. Keinesfalls sollte man versuchen, es zu streicheln oder zu füttern. „Auch sollte man nicht hinterherlaufen, um zu schauen, wohin das Tier verschwindet“, sagt Neuwald.
Um einen Wolf zu verscheuchen, helfe lautes Klatschen oder Rufen. Dann sollte man sich, den Wolf im Blick, langsam zurückziehen. In aller Regel gingen Wölfe in Deutschland Menschen aber ohnehin aus dem Weg. Sollte ein Wolf auf einen Menschen treffen und nicht sofort die Flucht ergreifen, sondern ihn mustern, sei es meist ein junges Tier. Es sei dann neugierig und wolle „einfach mal schauen“, sagt Neuwald. Mitunter liefen Wölfe auf der Suche nach einem neuen Revier durch menschliche Siedlungen. Dort verschwänden sie aber auch schnell wieder.
Fazit
Der Wolf ist zurück in Deutschland, und er richtet Schäden unter Nutztieren und Gatterwild an. Mitunter können ihn selbst Zäune nicht abhalten, was die Rufe von betroffenen Tierhaltern nach leichteren Abschüssen der Wölfe nachvollziehbar macht. Angst, von ihm angegriffen zu werden, muss man als Spaziergänger oder Freizeitsportler jedoch nicht haben. Der Wolf ist kein Tier, das Menschen einfach so angreift. Vor den viel zahlreicher auftretenden Wildschweinen sollte man sich eher in Acht nehmen, besonders, wenn sie Nachwuchs mit sich führen. Dennoch sollte man sich in Wolfsgebieten an Regeln halten: Wölfe nicht füttern, ihnen nicht hinterherlaufen oder gar versuchen, sie zu streicheln.
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Quellen
- ndr.de, „Wolfberater: „Wölfe müssen leichter abgeschossen werden können““ (aufgerufen am 21.09.2023)
- swr.de, „FAQ: Fragen und Antworten zu Wölfen in Baden-Württemberg“ (aufgerufen am 21.09.2023)
- wolf.sachsen.de, „Schutz von Nutztieren“ (aufgerufen am 21.09.2023)
- deutschlandfunk.de, „Am Wolf scheiden sich die Geister“ (aufgerufen am 21.09.2023)