12. Juli 2023, 13:42 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
An Südkalifornischen Stränden kommt es in diesem Sommer zu ungewöhnlichen Ereignissen. Mehrere Menschen wurden bereits von sonst scheuen Seelöwen gebissen. Die Ursache dafür ist ein wiederkehrendes Naturereignis, dessen Auswirkungen auf die großen Meeressäugetiere in diesem Jahr besonders drastisch sind.
Der Lebensraum der Kalifornischen Seelöwen befindet sich in den flachen Gewässern des östlichen Pazifischen Ozeans. Die großen Meeressäugetiere sind jedoch auch an Stränden, auf Felsen oder Hafendocks anzutreffen. Normalerweise zeigen sich die Tiere nicht aggressiv, sondern eher scheu – sofern die Weibchen keinen Nachwuchs haben oder die Männchen während der Paarungszeit ihr Revier verteidigen. Doch seit Juni dieses Jahres ist das Verhalten der Seelöwen in Kalifornien verändert. Von ihnen geht für Strandbesucher, Schwimmer und auch Surfer plötzlich eine potenzielle Verletzungsgefahr aus.
Übersicht
Mehrere Personen in Kalifornien von Seelöwen gebissen
Seelöwen haben in diesem Sommer an der Küste im südlichen Kalifornien bereits mindestens fünf Personen gebissen, berichtet die US-amerikanische Tageszeitung „Los Angeles Times“. Das sei ein ungewöhnliches Verhalten der großen Meeressäugetiere. Die Tiere zeigen sich normalerweise nicht aggressiv. Sie sind eher scheu, so die Wetter- und Ozeanografiebehörde National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA). Strandbesucher sollten dieser Tage besonders viel Abstand zu den Seelöwen halten.
Ein 14-Jähriger wurde im Ozean vor der kalifornischen Stadt Del Mar gleich zweimal von einem Seelöwen gebissen, so die Tageszeitung „New York Post“. Das Tier habe nach der Begegnung mit dem Jungen mit geschlossenen Augen und zuckendem Maul in der Brandung gelegen, wie Augenzeugen berichten.
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Giftige Meeresalge als Ursache des Verhaltens
Glücklicherweise ist das veränderte Verhalten der Tiere nach Einschätzungen von Experten temporär. Die Seelöwen in Kalifornien sind nicht an Tollwut erkrankt oder jagen am Strand Menschen, erklärt Dr. Alissa Deming der „Los Angeles Times“. Die Tiere „rennen entweder in Surfer hinein, oder sie krampfen unkontrolliert und beißen sie versehentlich“, so die Mitarbeiterin des Pacific Marine Mammal Center in der südkalifornischen Stadt Laguna Beach. Es ist wahrscheinlich, dass die Seelöwen bei Berührung stark überreagieren und reflexartig ihren Kopf zurückwerfen. Anstatt anzugreifen, befinden sie sich in einem komatösen Zustand und „wenn sie erschreckt werden oder gegen etwas stoßen, können sie beißen“. Ausgelöst habe diesen Zustand ein Nervengift, die sogenannte Domoinsäure, produziert von der mikroskopisch kleinen Meeresalge Pseudo-Nitzschia.
Das Phytoplankton Pseudo-Nitzschia wächst unter günstigen Bedingungen in den Küstengebieten des Ozeans, erklärt das Channel Islands Marine & Wildlife Institute (CIMWI). Das geschieht etwa, wenn durch den Auftrieb von Wasser Nährstoffe aus tieferen Gewässern an die Oberfläche steigen. Dort fördert das Sonnenlicht das Wachstum der Algen, dies geschieht im Frühjahr und Herbst.
Zur Algenblüte, die in diesem Sommer vor Teilen der südkalifornischen Küste vorherrscht, kommt es bei plötzlicher, massenhafter Vermehrung der Organismen. Warum dieses Phänomen für die Fauna katastrophale Ausmaße annehmen kann, erklärt ein Blick auf die Nahrungskette, die die Algen durchlaufen. Kleine Fische, Muscheln und Schalentiere fressen die sich vermehrenden giftigen Algen. Dabei nehmen diese sogenannten Filtrierer keinen Schaden. Doch in ihnen sammelt sich die von den Algen produzierte Domoinsäure, die ihre Wirkung auf der nächsten Ebene der Nahrungskette entfaltet. Das geschieht, wenn Seelöwen, Delfine oder Seevögel die Filtrierer in großen Mengen fressen. Aufgrund der erhöhten Schadstoffkonzentration erleiden die Tiere häufig eine Domoinsäure-Vergiftung.
Bereits zahlreiche Seelöwen in Kalifornien durch Vergiftung gestorben
Das Channel Islands Marine & Wildlife Institute (CIMWI) dokumentierte bereits mehr als 1000 kranke und tote Seelöwen sowie mindestens 60 tote Delfine. Es sei im Juni täglich zu mehr als 200 Meldungen in Not geratener Meeressäugetiere gekommen. Seelöwen seien dem Nervengift am häufigsten ausgesetzt, so das Institut. Auftretende Symptome sind Krampfanfälle, Schwingen des Kopfes, Schaum um das Maul und lethargisches aber bei Kontakt mit Menschen auch aggressives Verhalten.
Aufgrund der Vergiftung entstehen Gehirnschäden, die zu Gedächtnisverlust und Problemen bei der Informationsverarbeitung und der Lernfähigkeit der Tiere führen können. Wie stark der Schaden ausfällt, ist abhängig von der Menge verzehrter, kontaminierter Fische. Besonders kritisch sei die Vergiftung bei schwangeren Seelöwen, da sie in diesem Zustand besonders viel Nahrung zu sich nehmen. Eine Vergiftung mit Domoinsäure kann bei ihnen zu Früh- und Totgeburten führen. Dennoch sei die Vergiftung dem CIMWI zufolge nicht unheilbar. Bei rechtzeitiger Behandlung würden die Symptome nach maximal 72 Stunden abklingen, so das Institut.
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Diese Algenblüte sei eine der größten, die je in der Region beobachtet wurden. Das Pacific Marine Mammal Center in Laguna Beach versorgt die meisten gestrandeten Seelöwen, mit denen die Einrichtung je zu tun hatte, erklärt Dr. Deming der „Los Angeles Times“. Sie arbeitet dort seit über 10 Jahren und beschreibt die Situation als „das schlimmste Domoinsäure-Ereignis, das ich je gesehen habe“. Auch Michelle Kowalewski, Gründerin der Channel Islands Cetacean Research Unit in Santa Barbara, schließt sich dieser Einschätzung an. Sie versorgt seit mehr als 20 Jahren gestrandete Meeressäuger in der Gegend. „Ich habe noch nie etwas so Intensives gesehen, was die Anzahl der Tiere angeht.“
Dokumentiert wurden Vergiftungen im Zusammenhang mit Domoinsäure erstmals in den 1990er-Jahren, so die „Los Angeles Times“. Auslöser der Algenblüte sind sowohl der fortschreitende Klimawandel, das Wetter-Phänomen El Niño, das dazu führt, dass die Ozeane wärmer sind, als auch regenreiche Jahre, die Düngemittelabfluss fördern. Diese bewirken die starke Vermehrung der Algen. Häufigkeit, Schwere und Länge der Algenblüte haben in den letzten Jahren dennoch deutlich zugenommen.