12. Juni 2024, 16:48 Uhr | Lesezeit: 13 Minuten
Vor den Küsten Marokkos, Spaniens und Portugals attackiert eine Gruppe Orcas seit 2020 Segeljachten. Dabei werden ihre Ruder mitunter stark beschädigt, einige versinken gar im Ozean. Nun kam es in spanischen Gewässern erneut zu einem Zwischenfall, in dessen Folge die Segeljacht „Alborán Cognac“ unterging. PETBOOK sprach mit Autor und Skipper Thomas Käsbohrer über das ungewöhnliche Verhalten der Orcas, welchem er in seinem Buch nachgeht.
An der Küste westlich vor Gibraltar bis hoch nach Brest in der Bretagne hält sich während der Sommermonate eine Gruppe von 40 bis 50 Orcas auf – die Population der Orca Iberica. Die Tiere zeigen seit drei Jahren ein für Skipper und Wissenschaftler rätselhaftes Verhalten. Sie nähern sich Segeljachten und verursachen zum Teil starke Schäden an den Rudern. Mitunter versinken die Boote aufgrund der Schäden.
Orcas versenken 15 Meter lange Segeljacht
Dieses Schicksal ereilte jüngst auch die 15 Meter lange Segeljacht „Alborán Cognac“. Laut mehrerer spanischer Medien hätte die Besatzung am Sonntagmorgen, den 12. Mai 2024, etwa 26 Kilometer vor Kap Spartel am südlichen Eingang zur Straße von Gibraltar zunächst dumpfe Schläge gegen den Rumpf wahrgenommen. Als dann Wasser in das Boot eingedrungen sei, hätten die Segler einen Notruf abgesetzt.
Der Fall ähnelt stark dem vor fast genau einem Jahr. Damals wurde die Segeljacht „Alboran Champagne“ anfang Mai wurde vor der spanischen Küste bei Barbate von Orcas attackiert, wie die Website Segelreporter meldete. Um die vierköpfige Crew zu retten, kam es in der Nacht zum 5. Mai 2023 zu einem Rettungsgroßeinsatz.
Die Berichte über Orca-Attacken werfen viele Fragen auf, denen PETBOOK im Gespräch mit Autor Thomas Käsbohrer auf den Grund geht.
Skipper Thomas Käsbohrer untersucht rätselhaftes Verhalten der Orcas
PETBOOK: Herr Käsbohrer, in Ihrem Buch mit dem Titel „Das Rätsel der Orcas“ gehen Sie einem für die Tiere untypischen Verhalten nach, dass eine Gruppe Orcas vor der iberischen Halbinsel zeigt. Wie haben Sie davon erfahren?
Thomas Käsbohrer: Ich bin Segler. Mit meinem Boot war ich letztes Jahr in Dublin, als ich mit einem anderen Segler ins Gespräch kam. Er war auf dem Rückweg von Gibraltar nach Irland, als er eines Morgens das Gefühl hatte, er würde gleich auf einen Felsen auflaufen. Dabei handelte es sich aber nicht um einen Felsen, sondern um einen Orca, der ihn ansah. Dann verschwand das Tier. Dieser Vorfall war für mich der erste Hinweis, dass sich etwas verändert hatte. Der Erzählung entnahm ich, dass der Orca möglicherweise absichtlich in die direkte Nähe des Bootes schwamm. Nach diesem Gespräch habe ich mich in das Thema reingefuchst, die ganze Route bis nach Gibraltar recherchiert und von weiteren Begegnungen erfahren.
Was macht das Verhalten der Tiere so besonders, wie gehen Orcas bei Begegnungen mit einem Boot oder einer Segeljacht vor?
Es ist zunächst ungewöhnlich, dass die Orcas die Nähe zu Booten nicht mehr meiden, sondern teilweise suchen. Ihren Sicherheitsabstand geben sie dabei auf, das ist mit einer Verletzungsgefahr für sie verbunden. Nah am Boot können sie von einem Propeller getroffen werden, das wissen sie. Andererseits kennen Orcas uns als Küstenbewohner natürlich und kooperieren mit uns, vor allem beim Fischfang. Nun nähern sie sich den Booten und nicht nur das: sie drehen sie mit dem Kopf im Kreis, sie schlagen mit dem Kopf dagegen, sie rammen sie in voller Fahrt und sie beschädigen das Ruder.
Ungewohnt ist auch das sehr zielgerichtete Vorgehen gegen einen bestimmten Bootstyp. 80 Prozent aller Schäden, und wir gehen von mindestens 500 beschädigten Rudern in zwei Jahren aus, betreffen Segeljachten zwischen 8 und 13 Metern Länge. Dieser Bootstyp hat ein frei stehendes Ruder gleicher Bauart. Die Tiere wissen also sehr genau, was sie da machen und suchen sich die Boote auch aus.
»Plötzlich tauchte ein schwarzer Schatten auf
Sie trafen im Sommer 2022 nahe der Straße von Gibraltar selbst mit Ihrem Boot auf einen Schwertwal.
Das stimmt. An dem Tag übte hinter mir im Wasser die spanische Navy. Plötzlich tauchte in 300 Metern Entfernung von meinem Boot ein schwarzer Schatten auf und kam mit wirklich beeindruckenden Sprüngen und irrer Geschwindigkeit im Wasser auf mich zu. Ich war fasziniert. Vorher hatte ich mit anderen Meeressäugern, Delfinen, zu tun gehabt und das hier war eine ganz ungewöhnliche Art, sich zu nähern. Zielstrebig kam das Tier bis auf 30 oder 40 Meter zu mir heran und schlug dann plötzlich einen Haken auf die spanische Navy zu, die hinter mir war. Da habe ich dann noch mit mir selbst gewitzelt ‚Der hat heute Lust auf etwas Herzhafteres als mein Plastikruder. Der möchte heute lieber in ein Stahlruder beißen.‘ Ich kam unbehelligt davon.
Welche Erkenntnis über die Orcas hat sie bei der Arbeit an Ihrem Buch am meisten überrascht?
Was mich am meisten überrascht hat, ist, dass Orcas extrem intelligente Raubtiere sind. Sie befinden sich in der Raubtierhierarchie sogar noch über dem Weißen Hai und sind sogenannte Spitzenprädatoren. Orcas sind hoch spezialisiert und können ungemein effektiv miteinander kommunizieren. Anders als der Weiße Hai schnappt ein Orca nicht nach allem, was er kriegen kann. Da gibt es einen gewaltigen Unterschied. Sie spezialisieren sich auf ein Beutetier. Die Strategien der Orcas machen sie sehr erfolgreich, aber sie bedingen auch, dass sie nur auf eine bestimmte Beute losgehen, was auch von Nachteil sein kann. Forscher haben festgestellt, dass Orcas aufgrund ihrer Beutetreue bei einem Rückgang ihrer Nahrungsgrundlage eher hungern, als sich eine andere Beute zu suchen. Obwohl die Tiere also sehr intelligent sind, können sie sich im Fall von Nahrungsmangel nicht selbst helfen. Die Populationen geraten dann richtig in Schwierigkeiten, der Mangel treibt sie in den Hunger.
„Orcas sind intelligente Raubtiere, sie verändern ihr Verhalten und ihre Strategien“
Sie vergleichen das Verhalten der Orcas mit dem Verhalten anderer größerer Säugetiere. Dabei sprechen Sie auch von Hunden, genauer Labrador und Schäferhund, aber auch von Wölfen. Wo sehen Sie die Gemeinsamkeiten?
An einem Punkt kam ich im Gespräch mit Walschützern nicht weiter. Da hat mir dann der Blick über den Tellerrand geholfen, als ich mit Hundetrainern und Wolfsforschern sprach. Es ist im Grunde genommen sehr ähnlich. Orcas sind intelligente Raubtiere, sie verändern ihr Verhalten und ihre Strategien, um an ihr Ziel zu gelangen. Sie entwickeln immer etwas Neues und probieren es dann aus, da ähneln sie auch uns Menschen. Orcas setzt niemand eine Grenze und uns Menschen ebenso wenig. Wir Menschen sind den Orcas daher auch sehr ähnlich, wir sind auch ein Raubtier und auch uns gebietet niemand Einhalt. Die Begründung des Verhaltens der Orcas: Sie tun es, weil sie es können – das Verhalten macht ihnen Laune.
Sehen Sie im Verhalten der Orcas dann auch den Vergleich zum Hund und gar zum Spiel?
In dem Verhalten, das die Orcas bei Booten zeigen, stecken viele Dinge. Es ist Spiel, es ist Aggression, es ist Training, Konditionstraining, es ist Geselligkeit, aber auch Training der Koordination mit anderen Tieren, nach dem Motto: ‚Wir schnappen uns zu viert eine Jacht und schauen mal, wer kräftiger ist und wer mehr damit anstellen kann.‘ Es ist eine Mischung aus vielen verschiedenen Dingen und vieles spielt mit hinein in die Erklärung des Verhaltens.
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»Ein bestimmter Typ Mensch deutet das Orca-Verhalten als Spiel, andere als versuchte Vernichtung des Bootes
Wird das Verhalten der Tiere von Augenzeugen Ihrer Einschätzung nach zum Teil missverstanden, wenn es sich bei Ihnen nicht um Experten handelt? Zeugen beschreiben etwa aus dem Wasser schauende Orcas als Beobachten des Opfers, während Sie Experten zitieren, die jenes Verhalten schlicht als Neugier erkennen wollen.
Es handelt sich dabei nicht um Missverständnisse, wir haben doch alle unsere ganz eigene Brille auf der Nase, durch die wir Dinge sehen. In meinen Interviews habe ich bemerkt, dass immer wieder ein bestimmter Typ Mensch, egal ob Segler oder Wissenschaftler, schnell dabei war, das Verhalten als Spiel zu deuten. Mir wurde bewusst, dass das alles Personen sind, die mit größeren Tieren zu tun haben, sei es ein großer Hund oder ein Pferd. Ich habe überlegt, wieso die Orcas eine Sache, etwa das Ruder, demolieren sollten, wenn sie doch bloß spielen.
Von Menschen mit Pferde-Erfahrung erfuhr ich von einschlägigen Erlebnissen. Etwa, dass ein Pferd einen Zaun eintritt, ohne aggressiv zu sein. Oder ein Pferd sich scheinbar gewaltsam gegen eine Hecke drückt, jedoch aus Angst handelt. Ein bemerkenswertes Beispiel ist die Erfahrung eines Pitbull-Halters, der bei der Begegnung mit Orcas mit ihnen sprach und sie über seine Art der Kommunikation merklich ruhiger werden ließ, wie Videoaufnahmen eindeutig zeigen. Andere Personen ohne diese Erfahrungen neigen dazu, die Attacken als eine versuchte Vernichtung des Bootes anzusehen. Dabei bewegen wir uns wohl zwischen zwei Wahrnehmungen ein und desselben Verhaltens. Die Wahrheit liegt vermutlich in der Mitte.
Stimmung gegenüber Orcas sei noch neutral, aber der Druck steige
Mitte März dieses Jahres wurde ein weiteres Boot von Orcas beschädigt – und das sogar während der ausgewiesenen Monate, in denen die Gewässer vor Orcas laut spanischer Behörden sicherer sein sollten. Würden Sie dennoch auch weiterhin sagen, dass die Stimmung neutral ist?
So pauschal ist das schwierig zu sagen. Mittlerweile machen sich die Küstenbewohner teilweise Sorgen. Es ist ein recht großes Gebiet, in dem die Orcas sich den Booten nähern. Die Hotspots liegen zwischen der marokkanischen Küste, bis rauf zum spanischen A Coruña. Demnach ist die gesamte Westküste betroffen, inklusive Portugal. Bewohner der Küsten, die auf dem Wasser auch ihren Lebensunterhalt verdienen, sehen die Situation anders und dringlicher. Diese Menschen fragen sich, ob erst etwas mit ihnen passieren muss, bis gehandelt wird. Meines Erachtens ist der Druck im Kessel für die spanischen Behörden im letzten Jahr deutlich gestiegen.
»Menschen passen nicht in das Beuteschema der Orcas
Bisher ist kein Vorfall bekannt, bei dem ein Orca einen Menschen angegriffen haben soll. Hatten Sie aufgrund Ihrer persönlichen Erfahrung oder aufgrund der Gespräche mit anderen Skippern und Wissenschaftlern den Eindruck, das Verhalten der Tiere richte sich gegen die Menschen an Bord?
Nein, eigentlich nicht. Die Attacken richten sich gegen das Ruder aber diese Vorfälle sind auch eindeutig als Attacken auf Ruder einzuordnen. Es geht um Zerstörung, nicht nur darum, etwas zu erkunden. Wenn die Tiere sich an den Rudern zu schaffen machen, tun sie dies mit dem Ziel der Zerstörung. Menschen sind bislang nicht das Ziel, einfach deshalb, da sie nicht in das Beuteschema der Orcas hineinpassen. Diese Orcas der Orca-Iberica-Population vor Gibraltar jagen Thunfisch. Trotzdem bin ich der Meinung, dass man sich diesen großen Tieren nicht unnötig nähern und Abstand zu ihnen halten sollte.
Bei 50 Prozent der Vorfälle mit Orcas beobachteten Betroffene auch Jungtiere. Wird den Orcas das neue Verhalten in die Wiege gelegt?
In die Wiege gelegt nicht, denn das Heranwachsen der Orcas ist relativ lang. Jede Orca-Mutter hat nacheinander nur ein Baby, das bis zum elften oder zwölften Lebensjahr von ihr gefüttert wird. Sie werden jedoch, im Rahmen des Jagdtrainings, zu diesem Verhalten trainiert. Einige Skipper haben bei Begegnungen mit den Orcas den Eindruck gehabt, dass unter den Attacken des Ruders auch seichtere Bewegungen waren und sich etwas kleinere Tiere daran zu schaffen gemacht haben.
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»Selbst eine erfahrene Meeresbiologin war von dem Verhalten der Tiere irritiert
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass über 90 Prozent der Segeljachten, die sich pro Jahr im Lebensraum der Orcas zwischen Brest in der Nordbretagne und Gibraltar aufhalten, keines der Tiere zu Gesicht bekommen. Nur selten nähern sich die Orcas einem Boot, Schäden gibt es bei etwa zwei bis drei Prozent der Interaktionen mit den Tieren. Kann man da von einem wirklichen Problem sprechen? Mittlerweile wurden in zweieinhalb Jahren schätzungsweise 500 Boote beschädigt. Das sind relevante Größenordnungen, bei denen die Ruder demoliert wurden, obwohl es insgesamt nur zwei bis drei Prozent sind. Wer mit dem Boot hinausfährt, kann nicht ausschließen, dass nicht doch etwas passiert. Selbst eine erfahrene Meeresbiologin aus Neuseeland, die mit Orcas Erfahrung hat, war von dem Verhalten der Tiere vollkommen irritiert und erschüttert. Sie berichtete von einem planvollen Vorgehen.
Haben Sie den Eindruck, der zum Teil zerstörerische Kontakt der Orcas zu Segeljachten könne sich in Zukunft negativ auf ihre Schutzbestimmungen auswirken?
Wenn vom spanischen Umweltschutz etwas beschlossen wird, steht der Staat energisch dahinter. Das fühlt sich etwas anders an als hier bei uns. Ich habe den Eindruck, in Spanien wird Tierschutz durchgezogen. Auch im Hinblick auf die Orcas versucht man mit allen Mitteln, etwas zu tun. Man möchte das Verhalten der Orcas nicht nur verstehen, sondern auch die Schäden vermeiden. Dabei machen die Spanier auch Fortschritte und es gibt viele verschiedene Ansätze. Denn ich denke, wenn es so weiter geht und die Tiere weitere 300 bis 400 Jachten beschädigen, da hört der Spaß dann schon auf.
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Orca-Attacken könnten dieses Jahr noch mal zunehmen
Die Lebensbedingungen der bereits unter Schutz stehenden iberischen Orcas verschlechtern sich weiterhin. Wie schätzen Sie die künftige Entwicklung des Verhaltens der Orcas ein?
Ich wäre nicht überrascht, wenn die Zahl der Attacken dieses Jahr noch mal zunehmen würde. Bisher war zwischen Mitte Dezember und Februar immer eine angriffsfreie Zeit. Die britische Cruising Association hatte ihren Mitgliedern sogar geraten, zwischen Dezember und Februar statt zwischen Frühjahr und Herbst die iberische Halbinsel zu umrunden. Dieses Jahr ist es allerdings anders gewesen. Es gab bis zu 20 Attacken in der Straße von Gibraltar und die Tiere haben somit regelrecht ‚durchgemacht‘ in diesen Monaten.
Daher denke ich, dass das Verhalten dieses Jahr erst einmal zunehmen wird. Vielleicht wird das Verhalten im nächsten oder übernächsten Jahr aber auch einschlafen. Denn im Endeffekt bringt es den Tieren außer Spaß nichts. Sie können sich dadurch weder besser fortpflanzen noch leichter Nahrung finden. Auch ein Standortvorteil ergibt sich nicht. Es kann sein, dass es an andere Orca-Familien weitergegeben wird und sich so etwas länger hält, aber langfristig wird es verschwinden. Wann das der Fall sein wird, das kann ich nicht sagen. Ich habe allerdings auch von einem deutschen Segler erfahren, der berichtet, ein Orca hätte vor Norwegen mit seinem Ruder interagiert. An diesem Vorfall bin ich aktuell noch dran und konnte den Kontakt des Seglers gerade erst erfahren. Das würde das Gebiet der Orca-Interaktionen, das eigentlich bei Brest in Frankreich endet, noch um einiges vergrößern …