24. August 2023, 14:15 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Der Infantizid, also das Töten des Nachwuchses, ist im Tierreich weiter verbreitet als man denkt. Vor allem Mäuse, Kaninchen oder Schweine neigen dazu, ihre frisch geborenen Babys aufzufressen. Was lange als Verhaltensstörung galt, hat in der Natur durchaus Gründe. Welche das sind, erklärt PETBOOK.
Der Kindsmord, auch Infantizid genannt, ist etwas grausames. Doch im Tierreich kommt es tatsächlich häufiger vor, dass Tiere ihre frisch geborenen Babys plötzlich angreifen und sogar auffressen. Lange Zeit kannte man dieses Verhalten vor allem von landwirtschaftlichen Nutztieren wie Schweinen oder Kaninchen. Es galt als unnatürlich oder krankhaft. Kein Wunder. Den eigenen Nachwuchs zu töten, ist ein ziemlich düsterer Gedanke – auch bei Tieren.
Heute wissen wir durch wissenschaftliche Untersuchungen und Beobachtungen von Tieren in freier Wildbahn, dass der Infantizid ein natürliches Verhalten ist und bei einigen Säugetieren sogar eine Hauptursache für die Sterblichkeit von Nachkommen ist. Aber welchen Sinn kann es für Tiere machen, den eigenen Nachwuchs zu töten? PETBOOK ist dieser Frage einmal nachgegangen.
Übersicht
Welche Tiere töten Ihren Nachwuchs?
Das bekannteste Beispiel für Infantizid sind wohl die Löwen. Übernehmen männliche Tiere ein Rudel, kann es passieren, dass sie sämtliche Jungtiere im Alter von bis zu etwa neun Monaten umbringen. Hierbei handelt es sich aber niemals um den eigenen Nachwuchs. Tatsächlich kommt Infantizid aber im gesamten Tierreich vor. Etwa bei Schweinen, Braunbären, Pavianen, Schimpansen und zahlreichen Nagetieren.
Warum töten Tiere ihren Nachwuchs?
So grausam es auch klingt, meist haben Tiere durch das Töten des Nachwuchses einen Vorteil. In einer wissenschaftlichen Übersichtsarbeit zum Infantizid hat Sarah Blaffer Hrdy von der Havard Universität dafür vier Gründe identifiziert:
1. Der Nachwuchs wird als (Nahrungs-) Ressource genutzt
Sind die Bedingungen schlecht, weil es etwa zu wenig Nahrung oder Lebensraum gibt, können weibliche Tiere einiger Arten auch ihren eigenen neugeborenen Nachwuchs töten. Oft fressen sie ihn sogar auf. Man kennt dieses Verhalten etwa von Schweinen, Kaninchen und Mäusen. Auch bei Zootieren oder den eigenen Haustieren kann man dieses Phänomen manchmal beobachten.
Welche Faktoren dabei genau eine Rolle spielen, ist schwer zu sagen. Wissenschaftler vermuten, dass die Weibchen abschätzen können, wie hoch die Chancen stehen, dass der Nachwuchs erfolgreich durchkommt. Erscheinen die Bedingungen schlecht, werden die Jungen getötet, manchmal sogar gefressen.
2. Im Kampf um Ressourcen sollen so Konkurrenten ausgeschaltet werden
Forscher fanden heraus, dass Kindstötungen dazu führen können, dass benachbarte Weibchen das Territorium verlassen. Das verschafft anderen Weibchen Zugang zu begehrten Ressourcen wie Brutplätzen oder Höhlen.
Eine andere wichtige Ressource ist die Muttermilch. So kann es vorkommen, dass Weibchen die Jungen anderer töten, um zu verhindern, dass diese ihre Milch stehlen. Bei sozial lebenden Tieren, bei denen sich die Gruppenmitglieder oft gemeinsam um den Nachwuchs kümmern, erhöht das Ausschalten von Jungtieren zudem die Wahrscheinlichkeit, dass die eigenen überlebenden Nachkommen mehr Zuwendung erhalten.
3. Kranke oder behinderter Nachwuchs soll eliminiert werden
Oft kann man im Tierreich beobachten, dass sich Mütter Nachwuchs, der krank oder besonders schwach oder gar behindert ist, aggressiv gegenüber verhalten. Auch dies ergibt durchaus Sinn, denn die Wahrscheinlichkeit, dass Frühgeburten oder Jungtiere mit Behinderungen in der Natur überleben, ist extrem gering. Für die Eltern und den gesunden Nachwuchs ist es also von Vorteil, solche Jungtiere zu töten, statt Ressourcen an sie zu verschwenden.
4. Vorteil beim Zugang zu Individuen des anderen Geschlechtes
Sind Weibchen mit der Versorgung von Jungtieren beschäftigt, haben sie meist kein Interesse, sich fortzupflanzen. Für Männchen kann es daher von Vorteil sein, den Nachwuchs eines männlichen Konkurrenten zu töten, damit das Weibchen wieder schneller als Fortpflanzungspartner zur Verfügung steht. Eines der bekanntesten Beispiele dafür sind Löwen. Übernehmen männliche Tiere ein Rudel, so bringen sie sämtliche Jungtiere im Alter von bis zu etwa neun Monaten um.
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Es gibt aber auch Weibchen, die diese „Taktik“ anwenden. So kümmern sich beim Rotstirn-Blatthühnchen (Jacana jacana), einer Vogelart aus Südamerika, die männlichen Tiere um die Brut, während die Weibchen das Revier verteidigen. Wird die Henne dabei von einer Konkurrentin aus dem Revier verdrängt, tötet sie deren Nachwuchs. Das nun kinder- und arbeitslose Männchen hat nun wieder Kapazitäten, um das neue Weibchen zu begatten.
Was im Gehirn passiert, wenn Tiere ihre Jungen fressen
Sarah Blaffer Hrdy von der Havard Universität untersuchte in ihrer Arbeit nicht nur die Gründe von Infantizid, sondern stieß mit dem Thema auch nähere Untersuchungen der Gehirnstrukturen bei Tieren, die Infantizid begehen, an. So fanden Forscher eine bestimmte Gruppe von Nervenzellen im Gehirn, die das aggressive Verhalten erwachsener Mäuse gegenüber deren Nachwuchs steuern.
Diese sind etwa bei jungfräulichen männlichen Tieren aktiv, aber auch bei Weibchen, die sehr gestresst sind. Sie bewirken sogenannte „anti-elterliche“ Interaktionen, also das angreifen und auch töten von Nachwuchs. Tatsächlich kann man beobachten, dass Weibchen vieler Arten ihre Jungen unter stressigen Umständen wie Nahrungsknappheit angreifen oder vernachlässigen.
Nicht immer steckt Infantizid dahinter
Nicht immer steckt die Absicht dahinter, den Nachwuchs zu töten, wenn Eltern ihr Jungen verletzen. So kann es unerfahrenen Müttern durchaus passieren, dass sie ihren Tierkindern aus Versehen ein Beinchen oder Ärmchen abbeißen, wenn sie nach der Geburt die Nabelschnur zertrennen.
Hinter dem groben Umgang mit dem Nachwuchs kann tatsächlich auch eine Verhaltensstörung stecken, wenn das Tier selbst zu früh von der eigenen Mutter in einer wichtigen Prägungsphase getrennt wurde.
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Quellen
- The Havard Gazette, „Biological triggers for infant abuse“ (aufgerufen am 23.08.2023)
- Max-Planck-Gesellschaft, „Infanticide by mammalian mothers“ (aufgerufen am 23.08.2023)
- „Sueddeutsche.de“, „Kinder-Killer“ (aufgerufen am 23.08.2023)
- „Mdr.de“, „Säugetiermütter töten Jungtiere ihrer Artgenossen“ (aufgerufen am 23.08.2023)