23. Oktober 2024, 11:56 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Die radioaktiven Wildschweine in den Alpenregionen Deutschlands und Österreichs haben Wissenschaftler lange vor Rätsel gestellt. Dass die Verseuchung nicht durch die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl ausgelöst wurde – wie lange vermutet wurde – konnte nun mit einem aufwendigen Test bewiesen werden.
Lange haben Forscher und Naturschützer gerätselt, warum die Wildschweine im Alpenraum radioaktiv sind und bleiben. Die unglaublich hohe Konzentration von Cäsium in den Zellen der Tiere ist auch mehrere Jahrzehnte nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl nicht geringer geworden. Wissenschaftler aus Wien und Hannover haben herausgefunden, warum das so ist. Der GAU in Tschernobyl hat nichts damit zu tun!
„Wildschwein-Paradox“ endlich gelöst
Die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl hat 1986 größte Schäden in vielen Lebensräumen Europas hinterlassen. Noch bis heute existiert ein Sperrkreis um den Reaktor und die ukrainische Stadt Prypjat und es leben genetisch veränderte Hunde in den Ruinen (PETBOOK berichtete). Doch der Natur in der Sperrzone geht es ohne die Anwesenheit der Menschen heute besser als vor der Katastrophe. Warum gilt dies aber nicht für die Wildschweine, die in Bayern leben?
Das „Wildschwein-Paradox“ im südlichen Bayern und in Österreich hat die Wissenschaft lange vor Rätsel gestellt. In den Wildtieren finden sich Jahrzehnte nach der Reaktorkatastrophe noch immer eine so hohe Konzentration von radioaktiven Uran-Spaltprodukten, dass ihr Fleisch für Menschen nicht essbar ist. Die Konzentration von Cäsium ist bis zu 50-mal höher als der Richtwert! Doch scheint die Verseuchung den Tieren nicht zu schaden. Die Populationen wachsen, denn durch die Ungenießbarkeit ihres Fleisches werden Wildschweine nur wenig bejagt. Es rentiert sich für Jäger einfach nicht.1
Immer wieder richten die Wildtiere daher im Alpenraum Verwüstungen an. Werden Wildschweine dort dann doch geschossen, müssen Jäger ihr Fleisch auf den Becquerel-Wert untersuchen lassen, wobei die Konzentration von Cäsium pro Kilo gemessen wird. Ein Wert von 600 gilt als im Rahmen, bei den Wildschweinen im Alpenvorraum wurden jedoch Werte von 15.000 bis 30.000 gemessen!
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Bayrische Wildschweine mit 60 Jahre altem radioaktiven Material verseucht
Die Wildschweine in Bayern und Österreich werden wohl noch für lange Jahre ungenießbar bleiben. Warum das so ist – und der GAU in der Ukraine bislang nicht dafür verantwortlich ist – konnten Felix Stäger von der Leibniz Universität Hannover und seine Kollegen feststellen.
Für ihre aufwendige Untersuchung sammelten die Forscher Proben von Wildschweinen aus dem Alpenraum ein. Sie haben dabei nicht nur das Cäsium 137 gemessen, das bei der Reaktorexplosion in Tschernobyl als Spaltprodukt von Uran freigesetzt wurde und sich zunächst viel in Wildtieren ablagerte. Zudem setzten sie ein Massenspektrometer ein, was zuvor wegen des aufwendigen Verfahrens nicht durchgeführt wurde.
Nur so konnte man aber auch den Gehalt von Cäsium 135 untersuchen. Dies ist weitaus langlebiger und ist als einziges Spaltprodukt der Atomwaffentests der 1950er- und 60er-Jahre noch im Boden nachweisbar. Auf dieses Isotop ließen sich 68 Prozent der Belastung der radioaktiven Wildschweine zurückführen! 2
Trüffelsuche macht Wildschweine radioaktiv
Außerdem konnten die Wissenschaftler zeigen, warum gerade bei Wildschweinen das Cäsium so hoch konzentriert ist. Dies hängt mit ihrer Ernährungsweise und den Bedingungen des Lebensraums zusammen.
Die Wildschweine der Alpenregion suchen im Boden nach Hirschtrüffeln. In diesen 20 bis 40 Zentimeter tief vergrabenen Leckerbissen lagert sich mittlerweile aber radioaktives Material an. Es dauert nämlich Jahrzehnte, bis sich Cäsium in dieser Bodentiefe nachweisen lässt und an die Pilze abgegeben wird.
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In der Alpenregion sorgt für langsame Anreicherung
Warum dies gerade in Bayern und Alpenregionen so lange dauert, hängt mit der Bodenbeschaffenheit zusammen. Durch die alpinen Eigenschaften der Umgebung wird die Anreicherung extrem verlangsamt. Die isolierenden Lehmböden und der hohe Schluff-Anteil in der Erde verhindern, dass die Moleküle schnell ins Erdreich vordringen.
Auch die überdurchschnittlich hohe Regenmenge und Feuchtigkeit der Voralpen-Wälder führt dazu, dass radioaktive Spaltprodukte immer wieder ausgewaschen werden und nur äußerst langsam in die tieferen Bodenschichten gelangen.
Es dauert entsprechend lange, bis das Cäsium sich millimeterweise in der Tiefe anreichert, in denen Hirschtrüffel wachsen. Über 60 Jahre nach den ersten atomaren Waffentests ist dies jedoch nun der Fall. Entsprechend wird auch die radioaktive Belastung der Wildschweine noch geraume Zeit anhalten. Denn das Cäsium der Reaktorkatastrophe beginnt erst jetzt in die Trüffelschicht vorzudringen.